Kritik zu Der Fremde
Der gleichnamige Roman von Albert Camus gilt vielen als unverfilmbar, doch François Ozon gelingt es in seiner Adaption, neue Blickwinkel zu eröffnen
»Algerie Front de la liberté« steht in großen Lettern auf einer alten Steinmauer. Ein Graffiti, das in den 1930er Jahren die Unabhängigkeit Algeriens fordert. Dann Fes tragende Männer mit einem Plakat, auf dem sie proklamieren, Franzosen zu sein. »Vive la France«. François Ozon deutet gleich in den ersten Bildern den politischen Kontext von Kolonialherrschaft und aufkeimender Revolte an, in dem seine Albert-Camus-Adaption »Der Fremde« angesiedelt ist. Anders als im 1942 erschienenen Roman des späteren Nobelpreisträgers, der mit dem Satz beginnt: »Heute ist Mama gestorben«, zieht Ozon die Geschichte des Protagonisten Meursault von hinten auf, mit dessen Ankunft im Gefängnis, wo er der einzige Weiße in der überfüllten Sammelzelle ist. Auf die Frage, was er getan hat, antwortet er tonlos: »Einen Araber getötet.«
Lange galt Camus' Roman als kaum verfilmbar, selbst Luchino Visconti hatte sich mit seinem Versuch 1967 daran verhoben. Die radikale Subjektivität des Romans, sein unerschütterlich ichbezogener Blick, lässt sich nur schwer in Bilder übersetzen, ohne zur bloßen Illustration zu verflachen. Ozon begegnet dieser Herausforderung mit formaler Strenge und dem Verzicht auf psychologische Deutung. Seine Schwarz-Weiß-Bilder sind sorgfältig komponiert, der Kontrast ist scharf, das Spiel mit Licht, Schatten und Körpern präzise kalkuliert. Die Kühle der Form entspricht zunächst der Lakonie Camus', wirkt aber mitunter wie ein ästhetischer Filter, der die existenzielle Zumutung der Vorlage in stilisierte Oberflächen überführt.
Im Algier der Dreißiger folgt die Kamera Meursault (Benjamin Voisin) durch einen gleichförmigen Alltag aus Arbeit, Meer und beiläufiger Sinnlichkeit. Die Beziehung zu Marie (Rebecca Marder) ist von körperlicher Nähe bestimmt, nicht von innerer Regung; Ozon betont die Materialität der Welt – Wasser, Sand, Haut – als einzigen Bereich, in dem Meursault so etwas wie Intensität zulässt. Gegenfigur ist der schmierige Raymond (Pierre Lottin), dessen Gewalt gegen seine algerische Freundin Meursault in eine Konfliktspirale zieht, die im tödlichen Schuss auf ihren Bruder kulminiert. Die Tat erscheint zugleich zufällig und unausweichlich, ein Moment, in dem die Leere im Inneren sich mit der strukturellen Gewalt des kolonialen Systems kurzschließt. Der anschließende Prozess verhandelt, wie schon im Roman, weniger das Verbrechen als die Normabweichung. Meursault wird zum Gegenstand einer bürgerlichen Moral, die sich vor allem dafür interessiert, dass der Angeklagte bei der Beerdigung der Mutter nicht weinte.
Spannend ist, wie der Film mit den kolonialen Blindstellen der Vorlage umgeht. Ozon verleiht den algerischen Figuren zumindest punktuell eine Stimme: Die Schwester des Ermordeten klagt, dass sich niemand für ihren Bruder interessiert. Auf dem Grabstein am Ende steht erstmals ein Name, Moussa Hamdani. Damit orientiert sich Ozon sichtbar an postkolonialen Lesarten des Romans, bleibt dabei aber verhalten. Das Opfer ist nicht mehr anonym, aber dennoch primär Katalysator für den Erkenntnisweg des Protagonisten.
Benjamin Voisin gestaltet diesen Meursault als nahezu undurchdringliche Projektionsfläche. Seine sparsamen Gesten und der monotone Blick spiegeln den Kern der Figur, riskieren aber, sie dadurch charismatischer zu machen und so stellenweise das Gefühl radikaler Fremdheit abzuschwächen. Die berühmte »Gleichgültigkeit der Welt«, in die Meursault sich am Ende einfügt, ist weniger metaphysischer Schock denn die konsequente Pose eines Mannes, der beschlossen hat, sich nicht zu verstellen.
Im Kontext von Ozons bisherigem Werk erscheint »Der Fremde« zunächst wie eine asketische Übung, von ironischen Brechungen weitgehend befreit. Gleichzeitig schleichen sich vertraute Motive ein, das Interesse am Körper und an Figuren, die soziale Tabus überschreiten. Der Abspann mit »Killing an Arab« von The Cure setzt schließlich einen letzten Akzent. Der Song, seit seiner Veröffentlichung 1979 selbst Gegenstand von Missverständnissen und Kontroversen, schlägt eine Brücke zu heutigen Diskursen um Rassismus und Repräsentation. Und verdeutlicht mit diesem Schlussakkord den inneren Widerspruch eines Films, der zugleich historische Treue beansprucht und sanft Gegenwartssensibilität demonstriert.




Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns