Kritik zu Bon Voyage – Bis hierher und noch weiter
In dem berührenden französischen Spielfilmdebüt reist eine alte Dame in Gesellschaft nichtsahnender Angehöriger in den Tod, untermalt von den melodischen Klängen des Popsongs »Voyage, Voyage«
Wie fühlt es sich an, wenn man den genauen Termin seines Todes weiß und zum letzten Mal seine Kinder sieht, das Meer rauschen hört, seine Haut in der Sonne wärmt? Und die eigene Familie keine Ahnung von der »Deadline« hat? Aus diesem Gegensatz von Wissen und Nichtwissen bezieht die französische Tragikomödie »Bon Voyage« einen Großteil ihres Witzes und ihrer Intensität. Die 80-jährige Witwe Marie will sterben. Nach acht Jahren ist ihre Krebserkrankung zurückgekehrt, und sie will sich nicht erneut quälenden medizinischen Prozeduren aussetzen. Deshalb plant sie, in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Umständehalber weiß nur ihr neuer Pfleger Rudy, den Marie mit einer klitzekleinen Erpressung als Fahrer engagiert, Bescheid. Als Maries lebensuntüchtiger Sohn Bruno und die pubertierende Enkelin Anna auftauchen, schwindelt Marie ihnen vor, wegen einer Erbschaft nach Zürich zu müssen. Die beiden beschließen kurzerhand mitzufahren, und zwar im uralten Wohnmobil der Familie. Unterwegs taucht ein weiterer Fahrgast auf: Lennon, Rudys zahme Ratte. Doch nicht nur das Tierchen sorgt für Ärger. Der polternde Bruno und seine kratzbürstige Tochter kommen nicht miteinander klar. Mit dem Hintergedanken, Vater und Tochter einander näherzubringen, weist Marie Rudy an, die Fahrt von Südfrankreich in die Schweiz in die Länge zu ziehen. Rudy seinerseits beschwört Marie, ihren Angehörigen die Wahrheit zu sagen. Doch Marie traut sich nicht, schon weil sie Bruno, geschieden und pleite, nicht zusätzlich belasten will.
Auch hier ist, wie im deutschen Sterbehilfe-Roadmovie »Hin und weg« (2014), der Weg das Ziel. Regisseurin Enya Baroux, von Haus aus Schauspielerin, inszeniert ihr Langfilmdebüt mit leichter Hand zwischen Dur und Moll und skizziert glaubwürdig mackenbehaftete Charaktere. Diese Leichtigkeit verdankt sich auch dem eingespielten Duo Hélène Vincent als liebenswürdig-gewitzte »Mamie« und Pierre Lottin als ihr leicht schräger Verbündeter. Die beiden waren vor kurzem in François Ozons Drama »Wenn der Herbst naht« in einer ähnlichen Konstellation zu sehen. Rund um die alte Dame entfaltet sich ein Gemenschel, in dem inmitten von Missverständnissen, Notlügen und heimlicher Scham in unerwarteten Momenten Humor und Verständnis aufblitzen. Auf Augenhöhe der todgeweihten Marie, die aus bereits entrückter Distanz auf die Welt und ihre Probleme schaut, wird man dazu gebracht, die Perspektive zu wechseln und den Zauber des Augenblicks zu erkennen. Die schwebende Melodie des französischen Popklassikers »Voyage, Voyage« von 1986 verleiht dieser Reise in den ersehnten Freitod zusätzlich romantischen Drive.
Die einzige, leider sehr falsche Note weist dieses sympathische Roadmovie schon am Anfang auf, wenn wie nebenbei demonstriert wird, wie leicht in einem Antrag auf assistierten Suizid getrickst werden kann. Das ist angesichts der gegenwärtig wieder neu diskutierten Erleichterungen für Sterbehilfe gerade in einem Film, der auch ein Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben ist, ein Eigentor.




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