Und dann wurde es doch noch schön

Baran Rasoulof mit ihrem Vater Mohammad Rasoulof per Smartphone. © Piero Chiussi / Berlinale 2020

Mieses Karma in Berlin. Selten hatten die Filmfestspiele mit so vielen Widrigkeiten zu kämpfen. Die Gegend um den Berlinale-Palast: verödet. Der nach dem Festivalgründer benannte Preis: ausgesetzt wegen Enthüllungen über die Nazi-Vergangenheit Alfred Bauers. Jurypräsident Jeremy Irons: in der Diskussion wegen früherer frauenfeindlicher Äußerungen. Am Vorabend der Eröffnung: der Schock der rassistischen Morde in Hanau. Gegen Ende: Coronavirus ante portas. Man hätte sich günstigere Startbedingungen vorstellen können für das neue Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek.

Der Internationalen Jury dürfte die Sache auch nicht leichtgefallen sein. Der Berlinale-Wettbewerb war unter Dieter Kosslick für seine »sozialdemokratische« Agenda kritisiert worden – die Neigung, dem politisch Korrekten den Vorzug zu geben vor dem künstlerisch Riskanten und zu viele gutgemeinte kleine Filme zuzulassen. Chatrian, kein Kulturmanager, sondern Filmkritiker und Kurator im klassischen Sinn, hat den Schwerpunkt Richtung Cinephilie verschoben und vor allem auf etablierte Autorenfilmer gesetzt. Aber die wenigsten zeigten sich in gewohnter Form. So irritierte etwa der kambodschanische Dokumentarist Rithy Panh am letzten Tag mit einem Filmessay (»Irradiés«), der Archivbilder sämtlicher Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts, von Hiroshima über Birkenau bis zu den Massakern der Roten Khmer, zu einem nivellierten, im meist dreigeteilten Bild geometrisch ästhetisierten Katalog des Grauens verarbeitet.

Und mit der Austreibung des sozialdemokratischen Teufelchens hat sich ein merkwürdig unempathisches Welt- und Menschenbild ins Programm geschlichen. Exemplarisch abzulesen an »DAU. Natasha«, der Auskopplung aus einem Kunstprojekt, das seit Jahren die Feuilletons beschäftigt – stellen Sie sich ein LARP, ein Live-Action-Rollenspiel, in stalinistischem Ambiente vor. Der Film von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel richtet den Blick in graubraunbeigen Dekors erbarmungslos vor allem auf zwei Laienschauspielerinnen: beim Trinken, Streiten, Prügeln und Kotzen, beim Sex, als Opfer sexualisierter Gewalt. Was das ästhetisch abwerfen soll, ist rätselhaft.

Sowohl »Irradiés« als auch »DAU. Natasha« wurden ausgezeichnet; im Fall von »DAU« ging der Bär an den deutschen Kameramann Jürgen Jürges. Zusammen mit den Preisen für den allerdings verdienten südkoreanischen Regisseur Hong Sangsoo (»The Woman Who Ran«), die schwachbrüstige französisch-belgische Komödie »Effacer l|historique« (Verlauf löschen) und das bittere, zuweilen boshafte italienische Familienporträt »Favolacce/Bad Tales« ergibt sich eine große Streuung – wenn man es wohlwollend betrachten will, eine Anerkennung der Experimentierfreude im Wettbewerb.

Irgendwann wurde dann aber doch noch alles gut und würdig. Die Hauptpreise bestätigten das Berlinale-Gespür für Inhalte. Der Gewinner des Goldenen Bären, »There Is No Evil« (Es gibt kein Böses) von Mohammad Rasoulof, hatte sich am Freitag als letzter Beitrag entschlossen in den Blick geschoben, nicht nur, weil er das Engagement des Festivals für das Kino der iranischen Dissidenz fortsetzt. Rasoulof wurde wie zuvor sein Kollege Jafar Panahi (Goldener Bär 2015 für »Taxi Teheran«) an der Ausreise gehindert; den Preis nahmen die Produzenten entgegen. »There Is No Evil« hat Rasoulof unter Ausnutzung der »Schlupflöcher« im Repressionssystem seines Landes gedreht: in vier Episoden, die einzeln als Kurzfilme unter den Namen seiner Regieassistenten angemeldet wurden. Und um Schlupflöcher, um gesellschaftliche Spielräume, geht es auch in den pointierten Geschichten über die elende Praxis der Todesstrafe, über Menschen, die sich schuldig machen – oder sich entziehen. Dabei erkundet der Film das bürgerliche Milieu des Landes und seine moralische Disposition, in einer nicht revolutionären, aber selbstsicheren und angemessenen Inszenierung. »There Is No Evil« wurde auch von der Ökumenischen Jury ausgezeichnet.

Mit dem Großen Preis der Jury für Eliza Hittmans »Never Rarely Sometimes Always«, das umsichtige, angesichts des sexualpolitischen Backlashs in den USA brisante Porträt zweier Teenager, die nach New York reisen, um heimlich einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, wurde der Favorit der Kritiker bestätigt. Wenn Filme Themen behandeln, die »die Gesellschaft und den Blick auf sie voranbringen«, wenn sie zudem eine »kinematografische Grammatik« haben, werde es großartig, hat die Kamerafrau Hélène Louvart im Interview mit dem »Tagesspiegel« gesagt. Sie meint damit die Regie – doch ihre fließende, sinnliche Bildgestaltung entwickelt in »Never Rarely Sometimes Always« eine Zugewandtheit, wie sie kaum ein anderer Film des Wettbewerbs hatte.

Elio Germano war mit seiner leidenschaftlichen Darstellung des »Art brut«-Vertreters Antonio Ligabue in »Volevo Nascondermi/Hidden Away« praktisch seit Tag eins gesetzt und widmete seinen Schauspiel-Bären »all jenen, die marginalisiert werden«. Passt. Etwas überraschender kam der Preis für Paula Beer in der Titelrolle von Christian Petzolds mild-poetischer »Undine«. Beers Nixe hat die deutschen Wettbewerbsbeiträge gerettet, wenn man so will. Leer ging »Berlin Alexanderplatz« von Burhan Qurbani aus. Die geradezu biblische Wucht des Flüchtlingsdramas war bei Teilen der deutschen Kritik zwar gut angekommen, scheint aber nicht exportfähig zu sein.

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