Zielstrebige Unschlüssigkeit

Antonio Pietrangeli, den das Berliner Arsenal gerade mit einer Retrospektive ehrt, nahm es sehr genau. Einmal, so berichtete Ettore Scola, ließ der Regisseur ihn und seinen Co-Autor Ruggero Maccari aus Rom anreisen, um ihre Zustimmung zu einer Drehbuchänderung einzuholen. Als sie am Set in Parma ankamen, trauten sie ihren Ohren nicht. Pietrangeli verlangte von ihnen nicht etwa, eine Szenenfolge nachzubessern oder an einer Dialogpassage zu feilen. Er bat sie, ein einziges Wort in den Regieanweisungen zu ändern: Würden die Autoren ihm erlauben, die Szene auf einem Balkon spielen zu lassen?

Dieses Detail war ihm alle Mühe wert. Natürlich machte es einen Unterschied, ob die Szene in einem Salon oder draußen spielte. Ihre Auflösung und Atmosphäre wandelten sich dadurch entscheidend. Was Scola jedoch verblüffte, war der Respekt, den ihnen der Regisseur entgegenbrachte. So viel Wertschätzung waren Drehbuchautoren in Italen einfach nicht gewohnt. Sie kam nicht von ungefähr, denn Pietrangeli hatte selbst als Szenarist im Kino angefangen, bei Luchino Visconti, Alberto Lattuada und Pietro Germi. Die Lebendigkeit, die sprudelnde Freizügigkeit seiner eigenen Filme waren grundiert in einer akribisch ausgearbeiteten Blaupause. Sie mochten improvisiert wirken - zumal, wenn Erzkomödianten wie Alberto Sordi, Vittoriuo Gassman, Nino Manfred und Ugo Tognazzi vor seiner Kamera dem Affen Zucker gaben. Aber Pietrangeli überließ nichts dem Stegreif; auch der Zufall musste einem Plan folgen.

Man schaue sich nur einmal an, welche Impressionen die Kamera während der Zugfahrt zu Beginn von »La Visita« (Der Besuch) scheinbar beiläufig einfängt. Da wartet zuerst ein Trauerzug vor dem Bahndamm, dann winkt ein Kind den Reisenden zu und schließlich betrachten zwei schwarzgekleidete Frauen den Zug aus der Fremde mit argwöhnischem Blick. Der Vorspann ist noch nicht vorüber, da hat Pietrangeli das Publikum schon in die ländlich sittenstrenge Welt eingestimmt, mit welcher der Besucher aus Rom von nun an konfrontiert wird.

Im Arsenal läuft die erste vollständige Retrospektive seiner Regiearbeiten (abgesehen von Pietrangelis Episode des Omnibusfilms »Amori di mezzo secolo«, die wohl nur noch als stark zensiertes Fragment existiert). Kuratiert hat sie Hans-Joachim Fetzer, der den Regisseur bereits in Nürnberg vorstellte (siehe "Zärtlicher Sarkasmus" vom 2. 11. 2017). Zwischendrin zeigte das Filmmuseum München eine sehr gut besuchte Werkschau, in deren Verlauf ich Einführungen zu zwei Filmen hielt, die die Geduld des Publikums indes ziemlich überstrapazierten. An den folgenden Komödien, »Das Spukschloss in der Via Veneto« und »Der Besuch«, hatten die Ungeduldigen jedoch einen Heidenspaß; es waren auch wahre Kenner des italienischen Nachkriegskinos darunter.

Leicht zu fassen ist dieser Regisseur allerdings nicht. Den Artikeln, die in den Berliner Tageszeitungen zur Filmreihe erschienen, merkt man ein ausgesprochenes Fremdeln an: Claus Löser ordnet Pietrangeli vor allem als einen Wegbereiter für andere an; Fabian Tietke nähert sich ihm zwar weniger buchhalterisch, aber in beschwingte Schaulust versetzt ihn dessen Werk ebenfalls nicht. Für mich bedeutet die Werkschau eine Gelegenheit, Lücken zu schließen. Die Entdeckung einiger früher Arbeiten hat meinen Blick auf diesen Ausnahmeregisseur nicht radikal verändert, aber meinem Bild doch einige Nuancen hinzugefügt.

Sein Langfilmdebüt »Sonne in den Augen« von 1953 lernte ich vor einigen Jahren schon in Paris kennen und hatte den Eindruck, der gefeierte Frauenregisseur sei darin schon ganz enthalten. Die völlige Entwurzelung der blutjungen, verwaisten Heldin (Irene Galter), die aus der Provinz nach Rom gehen und sich als Dienstmädchen verdingen muss, fand ich erneut berührend, ja erschütternd. Ihr Zuhause existiert nicht mehr, und bald verabschieden sich ihre Brüder für immer, um nach Australien auswandern. In der großen Stadt findet sie sich überhaupt nicht zurecht; erst die muntere Solidarität ihrer Berufsgenossinnen gibt ihr Halt. Im Zentrum steht eine sprunghafte Liebesgeschichte, die Begegnung zweier Unschlüssiger, bei der sich Hingabe und Verzweiflung unbarmherzig abwechseln. Es könnte tragisch enden. Pietrangeli denunziert die ungeschützte Naivität seiner Heldin nicht, vielmehr nimmt er zärtlich Anteil an ihrem Prozess der Selbstwerdung und -behauptung.

»Der Junggeselle« scheint das 1955 das absolute Gegenprogramm zu diesem Melodram zu formulieren: eine waschechte Komödie, noch ohne die Abgründe, die das italienische Kino bald in seiner Königsdiziplin erkunden wird. Sordi glänzt als Hagestolz, der sich selbst betrügt, in dessen Augen aber mitunter echtes Feuer glüht, wenn er von Unabhängigkeit und erotischer Verfügbarkeit träumt. Auch hier folgt Pietrangeli gespannt der Unschlüssigkeit der Liebe. Das glückliche Ende bricht hastig über den Film herein, der das bestimmt gar nicht so gemeint hat.

Zu Anfang dieser Regiekarriere schlängt das Pendel also heftig aus, die Genres sind noch fest konturiert, lassen kaum eine Diffusion zu. Mit seinem Erstling schien der ganze Pietrangeli schon da, aber er muss erst ausprobieren, was sonst noch in ihm steckt, um danach wieder zu sich selbst finden. Das geschieht mit einer Zielstrebigkeit, die absichtslos sein könnte. Eine Sensibilität wie die seine wächst auch in Nebenwerken. In »Nata di Marzo« (Das Märzkind) von 1958 befreit, entfesselt er sie. Sein erstes Meisterstück, wiederum eines der romantischen Unbestimmtheit und ein prächtiger Verläufer von »Ich habe sie gut gekannt.« Pietrangeli setzt die turbulente Autopsie einer Ehe in Szene, die geschlossen wird zwischen einem wankelmütigen, schlagfertigen Backfisch (Jacqueline Sassard) und einem schon gesetzteren Ehemann, den Gabriele Ferzetti mit sanfter Stimme schillern lässt zwischen Opfer und Täter. Er ist gefangen in den Geschlechterrollen der Zeit: ein ahnungsloser Patriarch, dem die Idee der Gleichberechtigung fremd ist, der aber um der Liebe willen mit ihr ringt. Der Film ist das Duell von Zweien, die einander immer ebenbürtiger werden.

Um sie herum entfaltet Pietrangeli die ihm eigene Lebhaftigkeit von Zeitkolorit und Sittenstudie. Noch die kleinste Nebenfigur hat das Anrecht auf einen pfiffigen Dialogsatz. Besonders mochte ich ein überschüssiges Charakterdetail, das einem Nebenbuhler des Ehemannes großzügig hinzuerfunden ist. Ein alter Freund, dem Sassard das Leid ihrer Ehe klagt, will sie in seiner Wohung verführen. Er eilt in die Küche, um Eis für die Drinks zu holen. Ein paar Würfel fallen zu Boden, er wäscht sie rasch unter dem Wasserhahn. Pietrangelis Film sind sorgfältig und leichtsinnig zugleich konstruiert, temperamentvoll gehen sie in viele Richtungen, auch einander widerstrebende. Bei diesem Regisseur wird der Alltag zur Kippfigur; er setzt die Widersprüchlichkeit des Lebens ins Recht. Jedoch dringen seine Filme auf Klärung, die Wahrheit soll die Halbherzigkeit überwinden. Der Katharsis traut man nur unter Vorbehalt. Fertig ist man mit den Figuren Pietrangelis noch nicht. Die Umarmung im Schlussbild von »Das Märzkind« will einfach nicht enden.

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