Andere Wahrheiten, andere Lügen

Das reale Vorbild für Herrn Soltani heißt Mohamed Reza Shokri und lächelt ebenfalls sehr gern. Zumindest beteuert er dies. Er erweckt den Anschein, ein freundlicher und gottesfürchtiger Mann zu sein. Es fällt schwer, ihm auch nur ein einziges Wort zu glauben, nachdem man ihn in dem Dokumentarfilm »All Winners, all Losers« gesehen hat, den Azadeh Masihzadeh über seinen Fall gedreht hat.

Der ist in Wahrheit noch weit komplizierter, als er in Asghar Farhadis »A Hero« geschildert wird. Auf Youtube können Sie sich ein eigenes Bild machen. Die Dokumentarfilmerin kämpft sich durch ein Labyrinth der Widersprüche, Behauptungen und Dementi. Erstaunlich wenige Fakten sind objektiv nachprüfbar, es ist viel Hörensagen im Spiel. Die Besitzerin der Handtasche mit den Goldmünzen bleibt verschwunden und ihr Name, Zahra Yakubi, nur ein weiteres Mysterium. Shokri selbst zeigt sich als beredter, mediengewandter Verteidiger seiner Sache. Er sonnt sich in der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird.

Im wirklichen Leben steht momentan nicht nur sein Ruf auf dem Spiel. Wie "The Hollywood Reporter" berichtet, hat Masihzadeh eine Plagiatsklage gegen ihren ehemaligen Lehrer Farhadi angestrengt. Sie wirft ihm vor, er habe für »A Hero« ihr künstlerisches Konzept gestohlen. Gäben die Gericht dem statt, würden sämtliche Einnahmen von Farhadis Film an die Klägerin fallen. Daraufhin reichte dessen Anwältin Sophie Borowsky eine Gegenklage wegen Verleumdung ein. Sollten die Richter ihr Recht geben, könnte Masihzadeh eine drakonische Strafe drohen. Eine zweijährige Haft wäre gemäß iranischem Recht ebenso möglich wie eine Bestrafung durch 74 Peitschenhiebe; wahrscheinlicher jedoch ist die Verhängung einer Geldstrafe. (Update: die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen.) Auch Shokri klagt gegen den Regisseur. Au welcher Grundlage, konnte ich bislang nicht herausfinden. Welche Persönlichkeitsrechte könnte er geltend machen? Sieht er durch den Film sein Ansehen beschädigt? Das wäre blanker Unsinn angesichts des letztlich wohlwollenden Blicks, den der auf seine Hauptfigur wirft. Vielleicht sieht er in einem Prozess auch nur eine Möglichkeit, an Geld zu kommen. Masihzadeh sagt am Ende ihres Films, sie habe den Kontakt zu ihm verloren, seit er erneut im Schuldgefängnis sitzt.

Die Realität gibt sich also erdenkliche Mühe, die Kunst zu imitieren. Wie in einem Farhadi-Film öffnen sich verschiedene Perspektiven auf ein entscheidendes Geschehnis. Die Wirklichkeit hat auch hier eine dramaturgische Leerstelle gesetzt – das Rätsel der künstlerischen Inspiration –, es ist gut möglich, dass sich darum so geschickt Ambivalenzen konstruieren lassen, wie es in Fahrhadis Drehbüchern regelmäßig geschieht. Alles fängt in einem Workshop an, den der Regisseur 2014 an einer privaten Filmschule in Teheran, dem Karnameh Institut, veranstaltete. Darin sollten die Studenten Stoffe entwickeln, die Farhadi den Vermischten Nachrichten entnommen hatte. Darunter war der Fall Shokri, der sich zwei Jahre zuvor in Shiraz zugetragen hatte. So lautet die Version, die er bisher in Interviews über die Entstehung seines Films dargelegt hat. Masihzadeh behauptet, sie sei selbst auf die Geschichte gestoßen und habe die genauen Umstände recherchiert. Einige ihrer Kommilitonen sowie der Leiter des Instituts beglaubigen ihre Version. Aus ihrem Pitch der Idee, der starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht habe, ging „All Winners, All Losers“ hervor, den sie 2018 fertigstellte. Ein Jahr später bestellte Farhadi sie in ihr Büro und forderte sie auf, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der sie bestätigt, dass ihr Dokumentarfilm auf seiner Idee beruht. Dass sie nachgab, bezeichnet sie nun als Fehler. Ihre Schilderung entspricht einem sehr aktuellen Narrativ: Sie fühlte sich von dem mächtigen, einflussreichen Mann unter Druck gesetzt.

In solches Dokument hätte keinerlei juristische Relevanz: Ideen sind nicht urheberrechtlich geschützt. Warum also fühlte sich Farhadi zu diesem Schritt veranlasst? Ich nehme an, um sein eigenes Projekt bereits im Vorfeld gegen mögliche Plagiatsvorwürfe von ihrer Seite abzusichern. Sein Vorgehen schürt den Verdacht, er habe sie einschüchtern wollen. Absurd erscheint es überdies, denn es gibt kein Copyright auf wahre Geschichten. Der juristische Streit entzündet sich jetzt vor allem an der Frage, wie bekannt Shokris Geschichte tatsächlich war. Farhadis Rechtsbeistand hat Zeitungsartikel aus dem Jahr 2012 vorgelegt, in der sie ausführlich verhandelt wird. Laut "Hollywood Reporter" behauptet Masihzadeh jedoch, dass sie weder in nationalen Medien noch im Fernsehen präsent war. Damit widerspricht sie dem Befund ihres eigenen Films, in dem sie Ausschnitte aus Reportagen zeigt und in dem Journalisten von ihren Recherchen berichten. Der letzte Akt trägt den Titel "Lost Truth". Wie kann die Wahrheit verloren gehen, wenn sie stets sichtbar war?

Wie flüchtig und wandelbar die öffentliche Wahrnehmung im Iran zu sein scheint, ist ein Thema sowohl ihres Films wie Farhadis. Wäre die Situation nicht juristisch derart belastet, könnte man sie als glückliche Komplementäre sehen. Sie nähern sich dem Rätsel Shokri/Soltani auf unterschiedlichen Wegen an. Diese sind nicht nur, aber auch genrebedingt. Farhadi kann sich lässliche Freiheiten nehmen (Shokris Haftstrafe beträgt nicht drei, sondern fünf Jahre, er lebt nicht bei seiner Schwester, sondern der Mutter), während Masihzadeh schon zu Anfang um eine Drehgenehmigung vor der Gefängnistür kämpfen muss. Von dem, was hinter den Mauern geschieht, erfährt man in »All Winners, all Losers« jedoch mehr. Shokri wurde gut bezahlt für die Wandmalereien, mit denen er das Zuchthaus verzierte. Die Gefängnisleitung gibt sich vor der Kamera der Dokumentarfilmerin großherzig („Khomeini sagte, wir müssen unsere Gefängnisse in Universitäten verwandeln.“), ist aber ebenso doppelzüngig wie im Spielfilm. Einmal wird eine Hinrichtung erwähnt, die eines Mädchens. Masihzadehs Blick und ihre Fragen sind hartnäckig, furchtlos.

Das Bild des Iran, das die zwei Filme zeichnen, unterscheidet sich in maßgeblichen Nuancen. Bei Farhadi erscheint Shiraz moderner und urbaner. Bei Masihzadeh kommt keine Einkaufspassage vor, da spaziert Shokri durch einen Bazaar, der seit Jahrhunderten existierte. Sie findet andere Orte und filmt sie anders. Ihr Film schillert, ihre Sicht auf die Gegenwart ist vielgestaltiger, spannungsvoller. Shokri steht ihr in bizarren Ambientes (darunter einem nachgerade futuristischen) Rede und Antwort. Die Suche nach der Handtaschenbesitzerin führt sie in ländliche, noch ganz archaische Gefilde. Undenkbar, dass die Bewohner der armseligen Steinhäuser tatsächlich Goldmünzen horten könnten. Shokris Geschichte zerrinnt mit jedem Augenblick mehr. Ob dies auch für Soltanis gilt, entscheidet sich vor Gericht.

 

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