Kenneth Branagh: Noch einmal von vorn

Kenneth Branagh am Set von »Belfast« (2021). © Focus Features

Kenneth Branagh am Set von »Belfast« (2021). © Focus Features

Kenneth Branagh, Regisseur und Schauspieler, gilt als Inbegriff des »Britischen«. Vielleicht liegt es daran, dass er so viele Shakespeare-Stücke ins Kino gebracht hat. Jetzt startet sein persönlichster Film: Erinnerungen an eine Arbeiterjugend in Belfast. Zeit für eine Revision? Marion Löhndorf über Branaghs mehr als 30-jährige Karriere

Gegen Ende der achtziger Jahre begann Kenneth Branaghs große Zeit. Der Auftritt, der diese Jahre einläutete, war der ­Shakespeare-Film »Henry V« (1989). Branagh führte damals Regie, spielte selbst die Hauptrolle und schien vor Energie zu bersten. Der kräftige rothaarige Mann war einer der vielversprechendsten jungen Stars der englischen Bühne und im Begriff, sich den Weg zum Film zu erobern – eine Reihe schwungvoller Shakespeare-Adaptionen begleitete ihn in den folgenden Jahren, darunter »Much Ado About Nothing« (1993), »Othello« (1995), »Hamlet« (1996) und »Love's Labour's Lost« (2000). 

Wie ehrgeizig Kenneth Branagh war, zeigte schon die Wahl seiner Vorbilder. Auf den Bühnen der Welt gehörte »Henry V«, das Drama, das Branaghs Durchbruchsfilm zugrunde lag, nicht gerade zu ­Shakespeares beliebtesten Stücken. Aber im Film gab es einen majestätischen Vorläufer. Laurence Olivier, der Schauspielerkönig seiner Zeit, hatte die Rolle 1944 übernommen und im gleichnamigen Film auch Regie geführt. Gegen diese Version setzte Kenneth Branagh 1989 ganz bewusst seine eigene Fassung. Natürlich wollte Branagh, der 29-jährige Ire aus Belfast, es stürmischer, moderner und ganz anders machen. Das tat er, mit überwältigendem Erfolg. Doch ausgerechnet die ganz anders geartete, geschliffen kühle, raffinierte Kunst von Olivier blieb die Messlatte. Auf Olivier kam Branagh immer wieder zurück. Viele Jahre später sollte er ihn selbst spielen, unter der Regie von Simon Curtis in »My Week with Marilyn« (2011). 

Was den Schauspielstil in »Henry V« betraf, war damals auch schon der Branagh späterer Jahre zu erkennen. Er berief sich auf einen Gestus, der in dem von ihm ausgelebten Ausmaß aus der Mode gekommen war: Der jugendliche Sympathieträger spielte nicht nur das ganz große Drama, sondern das überwältigende Pathos. In Henrys berühmter Rede am St. Crispin's Day, im Krieg mit den Franzosen, drehte Branagh den Donner der Leidenschaft auf maximales Volumen. Und der Schlachtruf »Once more unto the breach, dear friends« ist längst zum geflügelten Wort geworden, eine Durchhalteparole, die einen Neubeginn allen Widerständen zum Trotz signalisiert. Niemand sprach diese Worte je so inbrünstig wie Branagh, wenigstens nicht im Kino. Dabei war nie ganz klar, ob es sich um ein patriotisches Werk oder einen englandkritischen Antikriegsfilm handelte. 

In »Henry V« und danach neigte Branagh als Regisseur, aber auch als Schauspieler zum Überschwang und zur Übertreibung. Er liebte es monumental, die Filme, die Storys, die Gefühle und die Budgets – und das ist mit einigen Ausnahmen bis heute so geblieben. Denn von den neunziger Jahren an ging Branaghs Hang zu ausufernden Dimensionen immer öfter mit Selbstüberschätzung und Fehlgriffen einher. In seinem Schwarz-Weiß-Film »Dead Again« (Schatten der Vergangenheit, 1991) eiferte er als Regisseur wieder einem großen Idol nach, diesmal Alfred Hitchcock. Doch der schön gefilmte Thriller blieb eine seltsam seelenlose Hommage ohne markanten eigenen Akzent. Branaghs Image als Wunderkind des britischen Films bekam nach dem Debakel von »Mary Shelley's Frankenstein« (1994) ernsthafte Risse. Der unkonzentrierte Film war mit Robert De Niro und Helena Bonham Carter prominent besetzt, aber in der Geschichte um den Größenwahn eines Mannes, der den Tod besiegen will, schien Branagh als Regisseur und Schauspieler jede Kontrolle verloren zu haben.

Das Jahr 1996 sah ihn noch einmal mit einem Karriere-Highlight, der Shakespeare-Verfilmung »Hamlet«, deren Titelrolle er auch in gewohnt intensiver Manier – oft mit Tränen der Innigkeit in den Augen – spielte. Für diesen Film erhielt Branagh eine seiner fünf Academy-Award-Nominierungen. Und doch folgten nach dem steilen Aufstieg in den achtziger Jahren vom Ende der neunziger Jahre an ruhigere Zeiten. Die Aufregung, die es in den ersten Karrierejahren um ihn gab, hatte sich mit den gemischten Resultaten der Folgezeit gelegt.  

In »Peter's Friends« an der Seite seiner damaligen Frau Emma Thompson – die beiden waren eine regelrechte Marke: »Ken and Em« spielten in sechs Filmen zusammen – hatte er 1992 schon gezeigt, dass ihm auch kleinere Formate, das intime Zusammenspiel eines reduzierteren Ensembles und die Darstellung zurückhaltender Gemütsbewegungen gelingen konnten. Das bewies er dann vor allem in seinem zu Unrecht vergessenen Zweipersonenfilm »Sleuth« (2007), dem Remake einer Produktion von 1972, bei der Joseph L. Mankiewicz Regie geführt hatte und Branaghs Idol Laurence Olivier als Gegenspieler von Michael Caine aufgetreten war. Auch in Branaghs Remake – nach einem von Harold Pinter bearbeiteten Drehbuch – trat Michael Caine auf, aber in der Rolle, die im Original Olivier gespielt hatte. Oliviers damaligen Part hingegen übernahm Jude Law. Vordergründig geht es um einen Kriminalfall, um Klassenunterschiede und um Täuschung und Wahrheit. Aber es ist leicht, den Stoff als Parabel auf die Schauspielkunst zu lesen, die in klaustrophobischer Atmosphäre ausgespielt wird, reduziert auf zwei Personen. Es ist ein kleiner, aber disziplinierter Film dieses Regisseurs. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zeigte einen geläuterten, stilleren und melancholischeren Kenneth Branagh.

Dazu passte, dass er ab 2008 die Fernsehrolle des »Wallander« in der englischen Version der schwedischen Krimiserie übernahm. Als Inspektor Wallander erschien Branagh schmallippig und still. Doch er brachte es fertig, auch diese leise Rolle – seine bis dahin wichtigste im Fernsehen – mit seinem Charisma und seiner Verletzlichkeit zu erfüllen. Es gab weitere TV-Auftritte, ein paar Shakespeare-Adaptionen für das Kino, die nicht mehr an seine frühen Erfolge heranreichten. Sogar eine Autobiografie war erschienen – weil er damit Geld verdienen wollte –, und hin und wieder trat er im Theater auf. Im Großen und Ganzen aber wirkten seine Jahre von 2000 bis 2010 richtungslos. Eine überraschende Wendung nahm seine Karriere, als er 2011 mit »Thor« seinen ersten Blockbuster drehte – eine Mischung aus Shakespeare'schem Familiendrama, überbordender CGI und charmantem Culture-Clash-Witz, im Rückblick nicht der schlechteste unter den Thor-Filmen

Der Großproduktion folgten weitere, darunter »Jack Ryan: Shadow Recruit« (2014), der Disney-Märchenfilm »Cinderella« (2015) und, ebenfalls für Disney, »Artemis Fowl« (2020), die Verfilmung eines Jugendbuch-Bestsellers. Außerdem gab es einen Hercule-Poirot-Krimi, »Mord im Orient Express« (2017), in dem er selbst auch die Hauptrolle spielte; der Film bewegte sich nicht recht von der Stelle, führte aber zu einem Sequel – in diesem Monat kommt »Tod auf dem Nil« ins Kino. Aus dem jugendlichen Shakespeare-Wunder war ein zuverlässiger Mann für Großproduktionen geworden, dessen eigene Handschrift nur noch in einem gewissen Schwung bestand, mit dem er die meisten seiner Arbeiten versah. Er habe sein Talent verschwendet: So war der Star, der Shakespeare massentauglich gemacht hatte und danach Multiplex-Futter herstellte, kritisiert worden. Er selbst, ohne intellektuelle und kulturelle Prätentionen, zuckte mit der Schulter: »Why not?« Außerdem war ihm längst bewusst, dass ein junges Publikum von seinen Anfängen und ihren anders gelagerten Ambitionen nichts mehr weiß: »Für eine jüngere Generation bin ich der Typ, der Filme über Superhelden dreht.«

Aber auf einmal, inmitten dieser scheinbaren künstlerischen Stagnation, kommt Branagh noch einmal mit einem großen Wurf ins Kino, mit einem Film, der daran erinnert, dass er vor dreißig Jahren als Genie gehandelt wurde. Es geht einmal nicht um die Welt im epischen Format, sei es bei Shakespeare oder im Blockbuster, sondern um ihn selbst, um seine Jugend in Irland. Davon erzählt sein in Schwarz-Weiß gedrehter neuer Film »Belfast«, der jetzt startet. Es ist sein persönlichster.

Branagh entstammt einer nordirischen protestantischen Arbeiterfamilie, die 1969 zu Beginn der Troubles Belfast in Richtung England verließ. Er war neun Jahre alt und bemühte sich um Anpassung an die schwierige neue Umgebung. Iren waren damals in England Feindseligkeiten ausgesetzt und wurden oft als Menschen ­zweiter Klasse behandelt. »Mein Ziel war es, mich anzupassen«, sagte Branagh später. »Ich hatte das Gefühl, dass ich das tun musste. Ich habe mich sozusagen herunter­gefahren.« Heute ist keine Spur eines irischen Akzents mehr in seiner ­Sprache ­hörbar, und er gilt als der typischste aller typischen englischen Schauspieler. Das und die Vielzahl der Ehren und Titel, die er erhielt – 2012 wurde er zum Ritter geschlagen –, täuschen darüber hinweg, dass er sich in England bis heute als ­Außenseiter fühlt. 

2011 antwortete er in einem Interview mit der »Frankfurter Rundschau« auf die Frage, warum er eigentlich nie zur britischen Kulturelite gehören wollte, und ob das seine ganz spezielle Art von Snobismus sei: »Das nun wirklich nicht. Da gibt es genug andere Gründe. Ich bin zum Beispiel Ire. Ich komme aus Belfast, Nordirland. Ein großes Handicap, wenn man zur britischen Elite gezählt werden will. Ich habe weder in ­Oxford noch in Cambridge studiert. Außerdem funktioniert in ­England das Klassensystem noch bestens. Es ist ein System feiner Abstufungen, wo es für die, die dazugehören, sehr erkennbare Symbole einer sozialen Akzeptanz und Rangordnung gibt. Es ist immer noch von entscheidender Wichtigkeit, welche Schule und welche Universität man besucht hat und welchen Titel der Vater hat. Man ist dann entweder in oder out

Im Lichte dieser Aussagen – und seines neuen Films – erscheinen Branaghs Bemühungen um Shakespeare, sein geistiges Maßnehmen an Laurence Olivier und der Hang zu bombastischen Projekten wie eine Art von Überkompensation der Nichtzu­gehörigkeit. Doch Branagh blieb, bei allen Anpassungsbemühungen an England, seinem Herkunftsland verbunden. In Belfast gründete er eine Stiftung, um irischen Schauspielschülern ein Jahr an der Londoner Schauspielschule zu ermöglichen, die er selbst besucht hatte, der Royal Academy of Dramatic Art. 2018 verlieh ihm seine Heimatstadt ihre höchste Ehrung als »Freeman of Belfast«, die er nun mit seinem neuen Film erwidert: »Der Film ist ein Akt der Dankbarkeit der Stadt gegenüber, dafür, dass sie mir Charakter gegeben hat«, sagt Branagh. »Es ist eine Anerkennung dessen, was diese Umgebung für mich getan hat, was immer noch tief, tief in mir vergraben ist.«

Doch auch Branaghs Geschichte mit England ist noch nicht zu Ende. In einer Fernsehserie, die demnächst ausgestrahlt wird, spielt er den britischen Premierminister Boris Johnson, den Mann, der aus der »richtigen« Klasse stammt, der Oxford besuchte, der überall »in« war und sich trotzdem langsam ins »Aus« manövriert. Anders als der irische Schauspieler aus der Arbeiterklasse, der ihn darstellt, und dessen neuer Film als Kandidat für die »Oscars« ­gehandelt wird.

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