Jonathan Glazer: Ein radikales Werk

Jonathan Glazer (Mitte) am Set von »The Zone of Interest« (2023). © Leonine Distribution

Jonathan Glazer (Mitte) am Set von »The Zone of Interest« (2023). © Leonine Distribution

Nachdem sein schräger Sci-Fi-Film »Under the Skin« ein Kultphänomen geworden war, verging eine ganze Dekade. Und dann das: Preise in Cannes, bei den BAFTAS und fünf Oscar-Nominierungen für »The Zone of Interest«. Spätestens dieses Porträt einer Nazi-Familie weist Jonathan Glazer als einen der wichtigsten britischen Regisseure aus. Patrick Seyboth schätzt ihn schon lange

Die Oberflächen, der erste Eindruck und der schöne Schein sind in seinen Filmen stets trügerische Angelegenheiten. Bei einem Mann, der sich mit Werbung einen Namen gemacht hat, mag das überraschen, doch nicht erst in seinen Spielfilmen hat Jonathan Glazer ästhetische Subversion betrieben, mit Bildern, die unter die Haut gehen.

Das fängt schon bei der Handlung an. Ist sein Erstling »Sexy Beast« (2000) auf den ersten Blick ein Heist Movie, so interessiert sich der Film doch viel mehr für das schwarzhumorige Psychoduell zweier Londoner Gangster. Legt die Story von »Birth« (2004) Reinkarnations-Mystik nahe, erzählt Glazer von Trauer und Sehnsucht und verschiedenen Konzepten von Liebe.

Alien-Nation: »Under the Skin«

Und der Plot von »Under the Skin« (2013) kommt wie purer Pulp daher: Ein Alien nimmt die Gestalt eines verführerischen Vamps an und geht in Schottland auf die Jagd nach Männern, die dann auf unappetitliche Weise von den Außerirdischen »verarbeitet« werden. Was Glazer und sein Koautor Walter Campbell allerdings aus der Romanvorlage von Michel Faber gemacht haben, ist ein wortkarges, vor allem in Bildern erzähltes Kunstwerk voller verstörender Momente und offener Fragen: philosophische Experimental-Science-Fiction, die ein Gefühl der Fremdheit induziert, auf diese Weise aber profunde Fragen über das Menschsein stellt, über Einsamkeit, Begehren und Mitgefühl. Seine eigenwillige Ästhetik weist schon in Richtung seines aktuellen Films »The Zone of Interest«.

Den Hollywoodstar Scarlett Johansson als Alien durch ein herbstliches, verregnetes Schottland zu schicken, ist ein mindestens ebenso genialer Besetzungscoup, wie ihn Nicolas Roeg 1975 mit David Bowie als »The Man Who Fell to Earth« landete. Aber Johansson spielt keinen naiv-neugierigen Außerirdischen wie Bowie, wenn sie mit billiger Perücke, falscher Pelzjacke und sehr rotem Lippenstift in einem Van durch Glasgow fährt, um Männer einem bizarren Schicksal zuzuführen. Ihr Alien ist zunächst wie ein Raubtier: unschuldig und gnadenlos. Jenseits seines verführerischen Charmes wird dieses Wesen ganz von Kälte und Präzision geleitet. Die Szenen, in denen es die Männer in ein heruntergekommenes Haus führt, in einen Raum totaler Schwärze, wo sie, wie hypnotisiert dem Trugbild folgend, im Schwarz versinken und irgendwo unter der Oberfläche noch ein wenig weiterleben und schweben, bevor sie buchstäblich aus ihrer Haut herausgesogen werden, zählen zum Fremdesten und Unheimlichsten, was das Kino zu bieten hat.

»Under the Skin« (2013). © Senator

Glazers Inszenierungsstrategie ist so kühn wie effizient: Die Welten, die hier kollidieren, spiegelt er in ästhetischen Gegensätzen. Die Aliensphäre wird visuell von mysteriösen, weißen oder schwarzen »Nicht-Räumen« und akustisch von Mica Levis außergewöhnlicher Musik repräsentiert, die mal an einen wütenden Wespenschwarm, mal an ein zu rituellen Trommeln geführtes Skalpell erinnert. Dem gegenüber steht der Kitchen-Sink-Naturalismus der Menschenwelt. Scarlett Johansson hat Glazer wie eine Art Trojanisches Pferd in sie hineingesetzt: Versteckte Mini-Kameras filmten sie in Glasgows Straßen, der Hollywoodstar interagierte mit ahnungslosen Passanten – die sie überwiegend nicht erkannten. Doch während wir den Alienblick übernehmen und uns das menschliche Treiben zunehmend fremd und absurd erscheint, scheint das Alien eine umgekehrte Entwicklung zu vollziehen und so etwas wie Mitgefühl für seine Beute zu empfinden, ja sogar selbst Teil dieser komischen Menschenwelt werden zu wollen. Es ist die ungewöhnliche Emanzipation eines außerirdischen Es als Mensch, und speziell als Frau, die hier erzählt wird. Denn wie Autorin Maureen Foster in ihrer 250 Seiten starken Monografie über den Film, »Alien in the Mirror«, sehr schön ausführt, reflektiert »Under the Skin« nicht nur das Menschsein, sondern auch die spezifischen Rollenbilder – und die Ängste – von Frauen und Männern.

Volle neun Jahre hat Jonathan Glazer an »Under the Skin« gearbeitet, in einem Prozess, der geprägt war vom Finden und Verwerfen verschiedener Herangehensweisen in allen Phasen der Produktion. Ein Film als Reise, auf die der Regisseur gemeinsam mit Cast und Crew geht und deren Ziel völlig offen ist. Es wird so lange probiert, bis sich etwas richtig anfühlt. Eine Garantie für Erfolg ist eine so obsessive Herangehensweise aber natürlich nicht. Bei der Premiere in Venedig 2013 erntete »Under the Skin« neben Begeisterung auch Buhrufe. In Deutschland fand der Verleih Senator ihn offenbar für einen breiten Kinostart ungeeignet und brachte ihn gleich auf DVD heraus. Doch die Reputation wächst mit den Jahren, und mittlerweile steht er in einigen Listen der besten Filme des neuen Jahrhunderts weit oben.

Werbespots, Musikvideos

Ein Gespür für Bilder, die unter die Haut gehen, und für Irritationen, die den schönen oder weniger schönen Schein infrage stellen, hat Jonathan Glazer schon früh in seiner Karriere bewiesen. 1965 in London in eine jüdische Familie mit filmaffinem Vater geboren, nahm er nach der Schule ein Studium an der Nottingham Trent University im Fach Theaterdesign auf und arbeitete danach am Theater. Nachdem er bereits in einem Job TV-Trailer für Filme geschnitten hatte – eine gute Schule in Storytelling –, erhielt er 1993 eine Anstellung bei der Londoner Firma Academy Films und drehte dort erste Werbespots. Vor allem seine Spots für Guinness – etwa der bildgewaltige »Surfer« mit gigantischen Wellen, aus denen weiße Pferde galoppieren – machten ihn in der Branche bekannt, obwohl er sich selbst nie als »Adman« betrachtete. Parallel drehte er ab 1995, beginnend mit Massive Attacks »Karmacoma«, zahlreiche Musikvideos, darunter raffinierte Spiele mit Raum (Jamiroquais »Virtual Insanity«), Zeit (Radioheads »Street Spirit«) und Perspektive (»Karma Police«, ebenfalls von Radiohead). Besonders »Street Spirit« (1995), in dessen schwarz-weißer nächtlicher Wohnwagen-vor-Wüste-­Szenerie Schönes und Bizarres wie in einem Traum zusammenfinden, hebt Glazer als prägend hervor. Das Video sei ein »Schlüsselmoment« gewesen, in dem er zum ersten Mal das Selbstvertrauen gefunden habe, Menschen mit seiner Arbeit »berühren und Dinge von poetischem wie auch ganz prosaischem Wert erschaffen zu können«. Aufsehen erregte auch sein Video zu UNKLEs »Rabbit in Your Headlights« (1998), in dem Denis Lavant als verwirrter Fußgänger in einem stark befahrenen Autotunnel immer wieder brutal umgefahren wird, bis er sich schließlich mit weit ausgebreiteten Armen aufstellt – und das nächste Auto an ihm zerschellt. Aus einem Alptraum der Ohnmacht wird eine rätselhafttriumphale Auferstehungsfantasie.

Gandhi als Psychopath: »Sexy Beast«

Von der explosiven Energie und der erzählerischen Dynamik seiner kurzen Arbeiten ist einiges noch in Glazers erstem Spielfilm »Sexy Beast« zu spüren, dessen virtuos inszenierte Eröffnungsszene bereits ein Ausrufezeichen setzt: Ray Winstone als Gal Dove, Londoner Safeknacker im Ruhestand, lässt sich da am Pool seiner spanischen Villa die Sonne auf den dicken Bauch brennen und hält einen genüsslichen Hitze-Monolog in Cockney. Doch bereits der riesige Felsblock, der wie aus dem Nichts den Hang herunterrollt und in den Pool einschlägt, zeigt unmissverständlich an, wie gefährdet Gals idyllisches Frührentnerdasein mit seiner geliebten Frau Deedee ist. Die Katastrophe bricht in Gestalt von Ben Kingsley als Bote der Londoner Unterwelt über Gal herein. Er soll ihn für einen letzten großen Coup nach Hause holen – und wieder krachen da Welten aufeinander.

Der Jahrtausendwechsel war eine gute Zeit für den britischen Gangsterfilm. Ironische Genre-Pastiches wie Guy Ritchies »Bube Dame König grAS« und »Snatch«, aber auch finstere Kost wie »Gangster No. 1« waren Kassenerfolge. Glazer bürstet die Genremuster allerdings gehörig gegen den Strich. Den Einbruch unter Wasser, auf den der Plot hinausläuft, handelt er im letzten Filmdrittel in wenigen – eindrucksvoll surrealen – Minuten ab. Sein Fokus liegt aber auf dem Psychoduell zwischen Ray Winstones anfangs so zufriedenem, liebendem Gal und seiner Nemesis, Ben Kingsleys getriebenem, zynischem Don Logan. Noch so ein Besetzungscoup: Ausgerechnet der zu dieser Zeit noch stark mit Gandhi identifizierte Kingsley spielt hier eine Verkörperung des Bösen, die wahrhaft beängstigend ist: beständig unter Strom, immer wieder in verbale Maschinengewehrsalven voller Obszönitäten ausbrechend – und allzeit bereit zu exzessiver Gewalt. Mit Traum- und Alptraum-Momenten dynamisiert Glazer auch visuell virtuos dieses Duell. Was aber die Gratwanderung von »Sexy Beast« zwischen vergnüglichem Dialogwitz und finsteren Abgründen letztendlich gelingen lässt, ist die stimmige Figurenzeichnung.

Obwohl sein erster Spielfilm bei Kritik und Publikum hervorragend ankam, ging Glazer erstaunlich hart mit ihm ins Gericht. Dem »Guardian« verriet er 2001, er habe Angst davor, Filme zu machen, die aussehen »wie 40 Werbespots, die ein Produkt suchen«, und »Sexy Beast« sei in gewisser Weise so ein Film gewesen.

Geheimnisse der Seele: »Birth«

In »Birth« (2004) suchte er offensichtlich nach einem anderen Tonfall und größerer Geschlossenheit; er inszeniert sehr ruhig, zurückgenommen und mit klassischer Eleganz, passend zum New Yorker Upperclass-Milieu, in dem die Geschichte angesiedelt ist. Nach eigener Grundidee in einem langwierigen Prozess zuerst mit dem legendären französischen Autor Jean-Claude Carrière (»Belle de Jour«, »Die Blechtrommel«) geschrieben und während der Dreharbeiten mit Milo Addica (»Monster's Ball«) weiter bearbeitet, erzählt »Birth« von Anna (Nicole Kidman), die zehn Jahre nach dem plötzlichen Herztod ihres Mannes Sean wieder heiraten will. Da taucht ein zehnjähriger Junge (Cameron Bright), ebenfalls mit Namen Sean, auf und behauptet, er sei ihr verstorbener Mann. Noch befremdlicher als seine Hartnäckigkeit ist seine Kenntnis von Details aus ihrem Leben und ihrer Ehe. Ist er eine Reinkarnation ihres Mannes? Schon der Filmbeginn, wieder so eine prägnante Sequenz, legt ein Mysterium nahe: Begleitet von der geheimnisvollen, repetitiven Musik von Alexandre Desplat, folgen wir in einer langen Kamerafahrt einem Jogger durch den verschneiten Central Park, bevor er irgendwann unvermittelt in einer dunklen Unterführung zusammenbricht. Schnitt auf ein Baby, offenbar gerade zur Welt gebracht.

Dass »Birth« vielfach zwiespältig bis ungnädig aufgenommen wurde, lag neben einem Pseudo-Skandal um eine Badewannenszene mit Kidman und Bright wahrscheinlich auch an solchen vom Ende her irreführend erscheinenden Fährten. Denn der Plot findet letztlich eine recht prosaische, ein wenig unglaubwürdige Auflösung. Doch die spirituellen Fragen, die »Birth« evoziert, beziehen sich eben nicht zwangsläufig auf: Reinkarnation – ja oder nein. Es geht um Liebe und ihre Macht, um unstillbare Trauer und Sehnsucht und was diese mit den Menschen anstellen – um die Geheimnisse der Seele. Und das sowohl aufseiten Annas, die an die Wiederkehr ihres Mannes glaubt, weil sie daran glauben will, als auch aufseiten des kleinen Sean, der sich tatsächlich in Anna verliebt, auf eine seltsam obsessive Weise. Auch hier prallen aber wieder unvereinbare Welten aufeinander, nicht nur in Form des Altersunterschieds, der eine gleichberechtigte Beziehung unmöglich macht, auch ein Klassenunterschied trennt die beiden. Auf vielen Ebenen erwartet der Film vom Betrachter, hinter die Dinge zu schauen, dem Anschein zu misstrauen. Und so scheint am Ende selbst die quasi-kriminalistische Auflösung trügerisch. Selbst nach mehrmaligem Sehen bleibt etwas an »Birth« geheimnisvoll.

Lagen zwischen »Sexy Beast« und »Birth« vier Jahre, so vergingen bis »Under the Skin« neun und danach bis zur Premiere von »The Zone of Interest« in Cannes 2023 sogar zehn Jahre. Mit zwei formal radikalen Kurzfilmen allerdings erregte Glazer in der Zwischenzeit Aufmerksamkeit: 2019 veröffentlichte er »The Fall«, einen Siebenminüter, in dem ein brutaler, maskierter Mob Jagd auf einen Einzelnen macht. Die dem japanischen Nō-Theater nachempfundenen Masken und die archaische Form der Tat, während zugleich das Gruppen-Selfie der Täter mit ihrem Opfer auf unsere Zeit verweist, steigern noch die Alptraumhaftigkeit des Szenarios, das, so abstrakt es ist, vielfältige Assoziationen zur Gegenwart auslöst.

Einen klaren Bezug zur Jetztzeit des Jahres 2020 stellte Glazer in »Strasbourg 1518« her. Der Titel spielt auf das rätselhafte historische Phänomen der »Tanzwut« an, bei der Menschen aus ungeklärter Ursache begannen, wahnhaft, tagelang und bis zur totalen Erschöpfung zu tanzen. Und auch hier tanzen sich mehrere Tänzer*innen einzeln in ansonsten leeren Räumen über zehn Minuten zu brutal-monotonen Elektrobeats (von Mica Levi) die Seele aus dem Leib – eine eindrucksvolle Reflexion der Klaustrophobie und Angst während der frühen Covid-Lockdowns.

Vom Unfassbaren erzählen: »The Zone of Interest«

»The Zone of Interest«, sehr frei nach dem Roman von Martin Amis, ist nun so etwas wie die konsequente Fortführung von Glazers Werk und seinen Motiven, stellt aber zugleich eine weitere kühne formale Zuspitzung dar – im Versuch, sich dem unfassbaren Grauen der deutschen Vernichtungslager zu nähern, ohne dabei auf eingeübte filmische Formeln zurückzugreifen.

Mehr noch als in den früheren Filmen ist hier die Oberfläche des Geschehens, obwohl sie historisch genau recherchiert und akribisch rekonstruiert ist, ein Trugbild: Ein Ehepaar mit fünf Kindern hat sich da eine wunderbare Existenz aufgebaut, lebt in einem schönen Haus mit großem Garten – der ganze Stolz der Frau. Als der Mann von Berufs wegen in eine andere Region versetzt werden soll, führt das zu Ehekonflikten, schließlich ist der Lebenstraum in Gefahr. Ganz nebenbei ist der Mann aber Rudolf Höß, Kommandant des KZ Auschwitz, sein Haus steht direkt neben dem Lager. Und der Film erzählt in schier unerträglicher Präzision von der menschlichen Fähigkeit, eigene Schuld und unendliches Grauen in unmittelbarer Nähe zu ignorieren.

Von zwei Welten erzählt Glazer auch hier wieder. Nur durch eine Mauer getrennt, könnte ihre Gegensätzlichkeit nicht brutaler sein, während sie doch zusammengehören. Glazer spricht von zwei Filmen, die in »The Zone of Interest« parallel ablaufen: Film 1 zeigt ganz naturalistisch das Höß'sche Familienleben mit all den Alltäglichkeiten, die die Kamera emotionslos registriert, mit Geburtstagsfeiern, Besuchen, Umgang mit dem polnischen Hauspersonal, manchmal auch beruflichen Treffen, Planschereien der Kinder im kleinen Pool. Film 2 läuft über die gesamte Zeit mit, doch untergründig, manchmal unmerklich. Es ist die Wirklichkeit des Massenmords nebenan, dessen physische Brutalität nie direkt gezeigt wird, die wir aber so hören, wie sie auch die Familie Höß unablässig gehört haben muss. Nur die Tonspur vermittelt, was da geschieht: Hundegebell, gebrüllte Befehle, hin und wieder Schüsse, Schreie – und ständig ein dumpfes Grollen, der Sound der Vernichtungsmaschine. Ins Bild geraten zwar manchmal auch Wachtürme oder Rauchsäulen aus den Krematorien, doch wozu »The Zone of Interest« – nach der Nazi-Bezeichnung »Interessengebiet« für die Sperrzone um das KZ – den Betrachter/Zuhörer zwingt, ist, selbst diese zwei Welten und ihren Horror im Kopf zusammenzubringen: die spießige Idylle und den Horror des industriellen Massenmords. Die Eindringlichkeit, die der Film damit erreicht, ist vergleichbar etwa mit Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten«, der den Leser ebenfalls in die Welt eines Nazi-Massenmörders versetzt. Nur dass Glazer im Gegensatz zu Littell auf das Zeigen physischer Grausamkeiten verzichtet.

Formal ist der Film einerseits durch extreme Zurückhaltung geprägt. Experimentierte Glazer in »Under the Skin« punktuell mit versteckten Kameras, so prägt dieses Stilmittel hier den gesamten Film. Die Schauspieler um Christian Friedel als Rudolf und Sandra Hüller als Hedwig Höß agierten in Haus und Garten weitgehend ohne sichtbares Filmequipment und ohne sichtbare Crew. Das Ergebnis dieser Methode – Glazer: »Big Brother in a Nazi house« – sind extrem statische, distanzierte Bilder, die subtil unter die Haut kriechen, denn die alltäglichen Handlungen und Dialoge der Höß-Familie wirken schrecklich gegenwärtig. Im stilistischen Kontrast zu diesen Aufnahmen stehen einzelne drastische Momente, beispielsweise lange Detailaufnahmen der blühenden Blumen im Garten, begleitet von grauenhaften Schreien, bevor das Bild ganz in ein intensives Rot kippt.

In diesen Momenten, ebenso wie in der zwar spärlich eingesetzten, aber umso eindringlicheren Musik von Mica Levi scheint der Film gegen seine Hauptfiguren und ihre Empathielosigkeit, ja gegen den Horror der Geschichte insgesamt aufzubegehren. Mit »The Zone of Interest« hat Jonathan Glazer ein erschütterndes filmisches Mahnmal geschaffen, das wie kein anderer Spielfilm die Obszönität der »Banalität des Bösen« offenlegt.

Doch in all der Dunkelheit gibt es auch einen Schimmer von Licht: Jene menschliche Fähigkeit zum Mitgefühl, mit dem sogar das Alien in »Under the Skin« infiziert wird, als es einen physisch deformierten, einsamen Mann aufgabelt und schließlich laufen lässt. In »The Zone of Interest« ist es ein Mädchen aus der Nachbarschaft des Lagers, das dort, wo die KZ-Insassen tagsüber arbeiten, nachts heimlich Äpfel für sie versteckt. Diese Szenen sind mit Wärmebildkameras gefilmt, was sie eigenartig verfremdet. Als seien es die optisch negativen, moralisch aber positiven Umkehrbilder zur Höß-Familie.

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