Interview: Viggo Mortensen über »Falling«

Viggo Mortensen am Set von »Falling« (2020).© Prokino

Viggo Mortensen am Set von »Falling« (2020).© Prokino

»Wir werden uns gerade bewußt, wie fragil das Leben ist«

Viggo Mortensen hatte eine ziemlich schräge Karriere hinter sich, bevor er mit »Herr der Ringe« weltweit bekannt wurde. Jahrzehntelang spielte er in interessanten Independent-Filmen wie »The Reflecting Skin« und »Indian Runner« oder landete Nebenrollen im Mainstream, darunter durchaus denkwürdige wie die des harschen Drill-Meisters in »G.I. Jane«. Versuche, ihn zum klassischen Leading Man aufzubauen wie im Remake von »Bei Anruf Mord«, waren nicht sehr erfolgreich. Der ritterliche Rockstar Aragorn bei Peter Jackson schien ihm allerdings auf den Leib geschrieben, und danach drehte er einige seiner besten Filme, ­»History of Violence« und »Eastern Promises« mit David Cronenberg, die Cormack-McCarthy-Verfilmung »The Road«. Zuletzt wurde der inzwischen 62-jährige Mortensen, der nebenberuflich als Musiker, Maler, Fotograf und Schriftsteller sehr »busy« ist, mit »Green Book« für den Oscar nominiert. Das Familiendrama »Falling« ist ganz und gar Mortensens Projekt: Zum ersten Mal führte er Regie, außerdem spielt er die Hauptrolle und zeichnet für Drehbuch, Musik und als Produzent. Thomas Abeltshauser hat mit ihm auf dem Filmfestival in San Sebastián gesprochen, wo »Falling« Premiere feierte und Mortensen mit dem Donostia Award ausgezeichnet wurde.

epd Film: Sie haben das Drehbuch zu »Falling« nach dem Tod Ihrer Mutter geschrieben. Warum haben Sie sich für diese Geschichte als Ihr Regiedebüt entschieden?

Viggo Mortensen: Darauf gibt es mehrere Antworten. Die ganz pragmatische: Von allen Drehbüchern, die ich im Lauf der Jahre geschrieben hatte, bekam ich für dieses als Erstes das Budget zusammen. Vor allem aber wollte ich diese Geschichte erzählen, weil ich das Verhältnis zu meinen Eltern erkunden wollte, meine Gefühle zu ihnen und wie mich meine Kindheit geprägt hat. Was habe ich gelernt, wie beeinflusst es mein Leben heute? Was sagt es vielleicht auch über unsere Gesellschaft als Ganzes, wie wir miteinander umgehen, in unseren Familien, in unseren Communities. Wie kann man gut miteinander kommunizieren? Auch wenn die andere Person kein Interesse daran hat, vielleicht sogar beleidigend ist, einen überhaupt nicht als Menschen wahrnimmt.

Es geht dabei auch um schmerzliche Erinnerungen an Verletzungen aus der Kindheit.

Für viele ist die Gegenwart verwirrend und eine große Herausforderung, die Zukunft macht ihnen Angst. Und sie stützen sich auf die Vergangenheit; aus ihr schöpfen sie Kraft, weil sie das bereits Geschehene für zuverlässig halten. Das sind ja scheinbar Tatsachen. Doch dann genügt schon ein kleines Gespräch unter Geschwistern: »Erinnerst du dich, wie wir damals an dem See waren, die Sonne ging gerade unter, und alle waren glücklich?« Und der andere sagt: »Wovon redest du? Das war im Winter, der See war zugefroren! Und du warst noch nicht mal dabei!« Und so hat jeder eine andere Erinnerung, und keine ist vollkommen korrekt. Wir basteln uns die Dinge unbewusst zurecht, um etwas Kontrolle über die Vergangenheit zu haben. Wir wollen uns sicher sein, den Zufällen des Lebens im Nachhinein Sinn geben. Aber wir haben keine Macht über die Vergangenheit, sie prägt uns, ob wir wollen oder nicht. Dem wollte ich in diesem Film nachspüren.

Was haben Sie dabei über sich selbst herausgefunden?

Als Kind hält man das eigene Leben für normal. Erst wenn man später andere Familienmodelle sieht, wie andere aufwachsen und zusammenleben, die unterschiedlichen Dynamiken und Konstellationen, erkennt man vielleicht, dass das eigene Aufwachsen ungewöhnlich ist. Mein Vater hatte ein bestimmtes Temperament, meine Mutter war ganz anders. Ich liebte sie beide, aber manchmal war ich auf seiner Seite, manchmal ergriff ich für sie Partei. Ich fand das alles ganz selbstverständlich, es war, wie es war. Erst später, so mit sieben oder acht Jahren, nahm ich wahr, dass es Probleme zwischen meinen Eltern gab. Das ging eine Weile so, bis zu einem Abend, als meine Mutter an mein Bett kam und mir erklärte: »Du bist der Älteste deiner Geschwister, deshalb sage ich es nur dir. Dein Vater und ich kommen nicht mehr miteinander aus, und wir haben beschlossen uns zu trennen.« Und ich antwortete nur: »Ich weiß.« Sie war sehr überrascht, das hatte sie nicht erwartet. Aber ich wusste es seit langem, Kinder haben ein Gespür für so etwas.

Fühlten Sie deshalb eine Verantwortung Ihren beiden jüngeren Brüdern gegenüber?

Das tut man als Ältester auf eine Art immer. Wir blieben bei unserer Mutter, zogen von Argentinien in die Vereinigten Staaten und lebten eine Weile bei ihren Eltern. Und damit wurden wir einer neuen Kultur und fremden Sprache ausgesetzt; wir drei waren vor allem mit Spanisch aufgewachsen, auch wenn unsere Mutter schon früh Englisch mit uns redete. Mein jüngster Bruder sträubte sich dagegen lange, antwortete ihr nur auf Spanisch, obwohl er sie perfekt verstand. Das sei eine »Müllsprache«, blaffte er, ohne erklären zu können, warum. Ich erinnere mich noch gut an den Flug in die USA, als ich meinen Brüdern klarzumachen versuchte, dass wir ab sofort Englisch sprechen müssen, damit uns die Verwandten verstehen können. Ich fühlte mich verantwortlich und zugleich als ihr Beschützer.

War der Film also auch eine Aufarbeitung in Bezug auf Ihre kulturelle Identität?

Ich habe ihn nicht bewusst deshalb gemacht. Aber in jeder Geschichte steckt auch Persönliches. In diesem Fall sicher sehr viel deutlicher, weil ganze Dialoge und Szenen sehr ähnlich in meiner Familie stattgefunden haben. Was das Aufwachsen in verschiedenen Kulturen angeht, habe ich früh gelernt, mich anzupassen, selbstständig und unabhängig zu sein. Zugleich habe ich aber früh ein Gefühl von Entfremdung erfahren, das durch die Reaktionen der Umwelt entstanden ist. Die Menschen um mich herum haben mir in dieser Zeit oft deutlich zu verstehen gegeben, dass ich anders bin, nicht ganz dazugehöre. Und das prägt. 

Inwiefern?

Ich wusste lange nicht, ob ich ein argentinischer Junge bin, ein dänischer oder ein amerikanischer. Die Schüler in meiner Klasse machten das an Kleinigkeiten fest: Warum machst du beim Z einen Querstrich? Warum sieht dein Bruchrechnen so komisch aus? Und die Lehrer strichen mir oft Fehler an, weil ich Wörter so buchstabiert habe, wie wir es in Argentinien gelernt hatten, nach der britischen Rechtschreibung. »Colour« statt »color«, »centre« statt »center«. Erst viel später wurde ich wütend darüber, als mir klar wurde, dass nur 20 Meilen von unserem Ort, auf der anderen Seite der kanadischen Grenze, wie im Rest der englischsprachigen Welt alle so schrieben wie ich und mein Lehrer ein verdammter Ignorant war. Aber so hat alles seine zwei Seiten. 

Aber es muss eine große Herausforderung ge­­wesen sein, nicht nur die Trennung der Eltern, auch der Neubeginn in einem fremden Land . . .

Es hatte seine Schattenseiten, natürlich. Ich fühlte mich manchmal etwas verloren, wusste nicht, wo ich hingehöre. Aber das ist für mich das Leben, es verläuft eben nicht nach Plan. Schon morgen kann alles anders sein, wegen einer Krankheit, eines Unfalls oder eines Todesfalls in der Familie. Und jetzt, während der Corona-Pandemie, werden wir uns dessen sehr viel mehr bewusst. Das Leben ist fragil, begrenzt und unwägbar. 

Der Film ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Sterben der eigenen Eltern . . .

Er handelt vom Älterwerden und vom Sterben, von der Angst, krank und von anderen abhängig zu werden, davon, in welchem Maß man sich um andere kümmern kann. Es geht um das Miteinanderreden, um Akzeptanz, Respekt und Vergeben. Willis steht für eine Generation von Männern, die wie mein Vater stark von patriarchalen Vorstellungen geprägt ist. Mein Vater war nicht so garstig, aber er hatte etwas von dieser wenig toleranten Art und den fixen Vorstellungen, wie die Rollen von Mann und Frau verteilt zu sein haben. Und wenn sie älter werden, fällt es ihnen schwerer, sich an soziale Veränderungen anzupassen. Sie stecken in ihren Dogmen fest. Der moralische Kompass im Film ist die Mutter, die ohne großes Tamtam vorlebte, wie man anderen mit Empathie und Respekt begegnet – das hat John wie viele Söhne von ihr gelernt. Er folgt ihrem Vorbild, nicht dem seines Vaters.

Konnten Sie mit Ihrem Vater über den Tod reden?

Als er bereits schwer krank war, habe ich mit ihm darüber gesprochen. Und er war vor allem wütend; er wollte es nicht wahrhaben, sterben zu müssen, wehrte sich vehement dagegen. Es war auch Angst dabei, Wehmut. Aber er versteckte das nicht, er ging sehr offen damit um, und wir hatten sehr intensive Gespräche darüber. 

Auch mit Agnès Varda, der Sie den Film gewidmet haben . . .

Ja, die Begegnung mit ihr war sehr wichtig für mich. Wir saßen während eines Flugs nebeneinander, sie war bereits sehr krank, nur wenige Monate vor ihrem Tod, und wir sprachen in diesen drei Stunden sehr offen und ehrlich miteinander. Sie machte noch Pläne für ein neues Projekt, obwohl sie nicht wusste, ob sie es verwirklichen könnte. Mir gefiel, wie sie damit umging, ihre Haltung dem Leben gegenüber, welche Rolle das Erzählen und Erinnern spielen, ihre Neugier für andere, ihre Menschlichkeit. Es war für mich ein unglaublich ermutigendes Gespräch; sie fasste in Worte, woran ich instinktiv glaube. Viele wollen sich nicht mit dem Tod ausei­nandersetzen, mit der eigenen Sterblichkeit. Ich kann das nachvollziehen, aber für mich gehörte es schon als Kind dazu. 

Inwiefern?

Es war nie etwas, wovor ich Angst hatte. Ich kann mich noch an einen Moment in meiner Kindheit erinnern. Die Großmutter des Nachbarjungen war gerade gestorben, und ich fragte meine Mutter: »Stirbst du auch?« Sie war völlig überrumpelt, stammelte: »Wie kommst du darauf? Mach dir keine Gedanken, lass uns über was anderes reden.« Aber ich ließ nicht locker: »Wirst du sterben?« – »Ja . . . irgendwann . . .« – »Werde ich auch sterben?« – »Ja.« Erst dann gab ich Ruhe. Ich war nicht traurig, aber es ärgerte mich. Und bis heute wache ich jeden Morgen mit einem Grummeln auf. Und dann stürze ich mich in die Arbeit. Ich halte es mit Sigmund Freud: Si vis vitam, para mortem. Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein. Das klingt düsterer, als es ist. Mach das Beste aus deinem Leben, du hast nur das eine. Wir alle müssen uns früher oder später mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Nicht um in Trauer oder Panik zu verfallen, sondern um die Zeit auf dieser Welt bewusst zu erleben.

Der von ihnen gespielte Sohn im Film kümmert sich voller Mitgefühl um seinen alten Vater, obwohl er ein Leben lang unter dessen emotionaler Kälte und Aggressivität gelitten hat. Müssen wir unsere Eltern um jeden Preis lieben?

Es ist eine Anstrengung, zu der er sich bewusst entschieden hat. Er hat sich versprochen, seinem alten Vater beizustehen, auch wenn dieser ihn beleidigt und beschimpft, sich auf keinen Streit einzulassen und ihm zu helfen. Man kann sich gut vorstellen, dass es im Laufe der Jahre viele Situationen gegeben hat, in denen der Vater den Telefonhörer auf die Gabel und die Tür zugeknallt hat. Aber jetzt ist er auf die Hilfe seines Sohnes angewiesen, und das ist nur möglich, wenn John nachsichtig und ruhig bleibt, auch wenn der Vater intolerant, frauenfeindlich, rassistisch und homophob ist. Andere würden vielleicht den Kontakt abbrechen. Aber das bringt uns nicht weiter, weder in unseren Familien noch in der Gesellschaft als solcher. Wenn wir aufhören zu reden und zuzuhören, ist niemandem geholfen, wird nichts besser, sondern nur noch polarisierter. Das sehen wir gerade überall. Es liegt an jedem Einzelnen, es in seinem Umfeld anders, besser zu machen.

Sind Sie selbst auch so versöhnlich?

Ich bin sicher nicht nachtragend, aber ich vergesse auch nicht, wenn ich gekränkt oder ungerecht behandelt wurde. Und es gibt in der Filmbranche Leute, mit denen ich aufgrund ihres Verhaltens sehr wahrscheinlich nicht wieder zusammenarbeiten werde. Dabei bin ich sehr geduldig, es kann ein Mal etwas passieren, auch zwei Mal, aber beim dritten Mal ist Schluss, egal ob jemand mich oder andere schlecht behandelt hat. Dafür ist das Leben einfach zu kurz.

Sie sind in Argentinien und in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, leben heute meist in Madrid. Wo ist für Sie zu Hause?

Ich finde mich überall schnell zurecht. Meine Philosophie ist, dass es wichtiger ist, wie ich bin als wer ich bin. Ich fühle mich von Gegenden angezogen, die echte Jahreszeiten haben. Und ich liebe Spanien, die Kultur und die Sprache. Meine Frau stammt von dort, deshalb verbringen wir viel Zeit in Madrid.

Als Schauspieler standen Sie für David Cronenberg in drei Filmen vor der Kamera. Jetzt haben sie den Spieß umgedreht und ihn in Ihrem Film als Arzt besetzt.

Ich mochte ihn immer als Schauspieler und fand ihn perfekt für diese Rolle. Ich wollte keinen Gefallen von ihm; wenn er abgelehnt hätte, wäre es auch okay gewesen. Aber er mochte das Drehbuch und stand eine Woche später vor der Kamera. Es war etwas komisch, es machte Lance Henriksen nervös, der den alten Vater spielt. Er war an dem Drehtag ganz aufgelöst. Als ich ihn fragte, was los sei, meinte Lance: »Ich drehe gleich mit Cronenberg!‹» Und ich antwortete: »Na ja, ich ja auch.«

Henriksen hat in über 250 Filmen mitgespielt, fast ausschließlich in Nebenrollen. Warum er?

Ich hatte ihn bei »Appaloosa« kennengelernt, und ich fand ihn als Schauspieler immer interessant, seine Stimme, seine Präsenz. Sein Blick hat etwas Irritierendes, Furchteinflößendes, fast wie ein Wolf. Und dann fängt er an zu lächeln, und plötzlich ist er der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Diese Ambivalenz war perfekt für die Figur. Natürlich hätte es näherliegende Optionen gegeben, Bekanntere, die ich hätte fragen können – Robert Duvall, Clint Eastwood, Anthony Hopkins. Sie hätten alle diesen alten Vater wunderbar verkörpert, aber keiner hätte damit wirklich überrascht. Das ist nicht einfach nur ein alter, herumkeifender Grantler, Lance spielt diese Figur vielschichtig und widersprüchlich.

Sie haben sich lange Zeit gelassen mit Ihrem Regiedebüt.

Das lag nicht an mir. Ich habe im Laufe der Jahre etliche Drehbücher geschrieben. Tatsächlich versuchte ich bereits 2003, eine Geschichte zu verfilmen, die in Skandinavien spielte, bekam aber nicht genug Geld zusammen. Ich versuchte es dann mit »Falling«, investierte eigenes Geld und tat einfach so, als würden wir den Film machen. Ich engagierte einen Kameramann, um die verschiedenen Jahreszeiten festzuhalten, die ich für die Rückblenden brauchte. Und irgendwann habe ich aus einer Mischung von Willenskraft und Sturheit beschlossen, einfach zu versuchen, den Rest des Films zu drehen. Ich bekam ein Budget zusammen, auch wenn ich etliche Zugeständnisse machen musste. 

Herausforderungen bringen Sie gar nicht aus der Fassung?

Ich musste mich schon zu Beginn meiner Karriere durchbeißen. Meine ersten Auftritte wurden rausgeschnitten. Ich hatte zum Beispiel eine kleine Sprechrolle in Woody Allens »The Purple Rose of Cairo« und schickte meine Mutter ins Kino. Sie rief mich danach an und meinte: »Du bist überhaupt nicht im Film, dein Name taucht noch nicht mal im Abspann auf.« Aber ich bin ziemlich stur, ich mache einfach immer weiter. Und ich habe Gelegenheiten erkannt und genutzt. Aber ich hatte auch immer wieder Glück. 

Ist diese Gelassenheit Teil Ihrer Persönlichkeit oder haben Sie Tricks?

Im Moment bin ich einfach sehr zufrieden, mit dem Film, mit mir, mit dem Leben. Am liebsten würde ich gleich mein nächstes Drehbuch inszenieren, aber dazu fehlt mir noch das Geld. Ich muss wohl erst mal wieder selbst ein bisschen vor der Kamera stehen. Spätestens 2022 hoffe ich, wieder Regie führen zu können. 

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