Filmfestival Locarno 2025

»Tabi to Hibi« (2025). © 2025 Two Seasons, Two Strangers Production committee

»Tabi to Hibi« (2025). © 2025 Two Seasons, Two Strangers Production committee

Mit 221 Filmen, davon 99 Weltpremieren, stellt das Festival von Locarno jeden Berichterstatter vor die Qual der Wahl, wenn einerseits erwartet wird, das Aushängeschild, den Internationalen Wettbewerb zu würdigen, andererseits in Nebensektionen Entdeckungen zu machen und das persönliche Hauptinteresse, die Retrospektive (diesmal Britisches Nachkriegskino 1945–1960; hoffentlich auch wieder in Deutschland zu sehen) nicht zu vernachlässigen. Zudem übernimmt das Festival natürlich nur für einige Tage die Hotelkosten und alles, was vielversprechend klingt, in der Digital Library nachzusichten, ist bis zur Deadline eher ein Glücksspiel, zudem ist dort natürlich nicht alles vorhanden. Das betraf in diesem Jahr etwa »Yakushima's Illusion«, den Wettbewerbsbeitrag von Naomi Kawase (mit Vicky Krieps in der Hauptrolle), und am Ende auch den Gewinner des Hauptpreises, des Goldenen Leoparden. Den vergab die Jury unter dem kambodschanisch-französischen Filmemacher Rithy Panh an den japanischen »Tabi to Hibi« (Two Seasons, Two strangers) von Sho Miyake: zwei Menschen begegnen sich im Sommer, zwei andere im Winter. So kann hier nicht mehr über ihn gesagt werden, zumal auch eine schriftliche Begründung der Juryentscheidung nicht vorlag.

Die deutschen oder deutsch koproduzierten Beiträge konnten ebenfalls einige Auszeichnungen verbuchen. Eindrucksvoll »White Snail« des österreichisch-deutschen Regieduos Elsa Kremser und Levin Peter. Hatten sie in ihren vorangegangenen Filmen »Space Dogs« und »Dreaming Dogs« eher dokumentarisch die Wirklichkeit erkundigt, ist diesmal ihre Spielhandlung nah an der Realität, die Annäherung zwischen dem blonden Model Masha, die vom Fortgehen träumt, von einer Karriere im Ausland, und Misha, der in Belarus als Leichenbeschauer arbeitet, sich keinen anderen Ort vorstellen kann, inspirieren ihn doch die Toten zu expressionistischen Ölgemälden. Zwei gegensätzliche Konzepte von Körpern und Schönheit prallen aufeinander. Dafür gab es den Spezialpreis der Jury, sowie einen weiteren für die besten Darsteller (ex-aequo mit den beiden Darstellerinnen des eindrucksvollen kroatischen »God will not help«).

Wer die Tiere aus den vorangegangenen Filmen des Duos Kremser/Peter vermisste, kam bei Alexandre Koberidzes deutsch-georgischer Koproduktion »Dry Leaf« auf seine Kosten, denn die Reise eines Vaters auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter führt zu zahlreichen Begegnungen mit diesen, oft sind sie auch nur Teil des Bildes und hinterlassen den Eindruck, als sei dies hier ihr Reich. Der Film könnte auch den Titel 'Die Fußballfelder Georgiens' tragen, denn genau diese wollte die Tochter mit ihrer Arbeit als Fotografin dokumentieren. Vom Dokumentarischen entfernt sich der Film allerdings durch seine impressionistisch unscharfen Bilder, die mit optischen Defekten mehrfach an alte Videobänder erinnern. Die 186 Minuten sind eine Herausforderung an den Zuschauer, in Locarno mit einer 'Besonderen Erwähnung' und auch dem Preis der Internationalen Filmkritik gewürdigt.

Publikumsnaher, aber ähnlich durchdacht widmet sich Julian Radlmaier in »Sehnsucht in Sangerhausen« (ost-)deutschen Befindlichkeiten, seine drei Episoden kunstvoll und mit Witz miteinander verschränkend, dabei lakonisch erzählt, obwohl einem das Lachen angesichts mancher gezeigter Zustände schon mal im Hals steckenbleibt.

Zu den Enttäuschungen des Wettbewerbs gehörten zwei bekannte Namen: in Abdellatif Kechiches »Mektoub My Love: Canto Due«, dem dritten Film über den jungen Tunesier Amin, scheint dessen Wunsch, als Drehbuchautor den Durchbruch zu schaffen, endlich in Erfüllung zu gehen, als er einen amerikanischen Produzenten trifft. Doch der ist mit einer jungen Schauspielerin verheiratet, die einem Flirt mit Einheimischen nicht abgeneigt ist – woraufhin das erwartbare Drama einsetzt, dessen Ende dermaßen over the top ist, dass man hofft, das Franchise würde damit enden, auch wenn das letzte Bild des Protagonisten anderes andeutet.

Ambitionierter, wenn auch ähnlich sexfixiert, war Radu Judes »Dracula«, der zu Beginn KI-animierte Figuren alle denselben Satz aufsagen lässt: »I am Vlad the Impaler and you can all suck my cock«. 'Cock' bleibt über die 170minütige Laufzeit das meistgehörte Wort im Film, der von einem abgehalfterten, altgewordenen Dracula-Darsteller erzählt, der mit Partnerin als Cabaretattraktion für Touristen auftritt, während auf einer zweiten Ebene ein Filmemacher das mithilfe von KI erstellte Drehbuch zu diesem Film begutachtet und sich immer wieder für die gerade gezeigten 'Geschmacklosigkeiten' entschuldigt, für die allerdings ausschließlich die KI verantwortlich sei. Das Ganze wirkt wie eine überladene Mahlzeit aus nicht zusammenpassenden Zutaten, umfasst Ausschnitte aus Murnaus »Nosferatu« ebenso wie einen längeren Exkurs über den ersten rumänischen Vampirroman (1938), dazu blutig-billige Effekte, zwischen denen einige treffsichere zeitbezogene Pointen untergehen. Demnächst auch in deutschen Kinos.

Eher nicht im Kino, aber irgendwann im koproduzierenden ZDF wird wohl der Film zu sehen sein, den Emma Thompson auf der Piazza Grande präsentierte: »The Dead of Winter« war eigentlich ideal für die riesige Leinwand (eine der Hauptattraktionen des Festivals), machte er doch die eisige Kälte seines Schauplatzes drastisch erfahrbar, aber die Mischung aus Trauerarbeit und Verbrechen hatte derart viele Drehbuchschwächen, dass es schwerfiel, Interesse am Fortgang des Geschehens zu bewahren.

Thompson zählte in diesem Jahr zu den Ehrengästen, die eine Auszeichnung für ihr Lebenswerk entgegennehmen konnten – davon gab es immerhin neun an den elf Festivaltagen, Publikumsliebling war dabei Jackie Chan, dessen bescheidenes Auftreten mit einem Zusammenschnitt aus seinen Filmen kontrastierte, der ein eindringliches Bild vermittelte von seiner Meisterschaft, Action, Gewalt und Humor zu verbinden. Die Popularität Chans bestätigte auch der Talk mit ihm am nächsten Tag, wegen des erwarteten Andrangs in das Retro-Kino verlegt, die einzige Vorführung, die (bei freiem Eintritt) sofort ausgebucht war. Dass mit Willem Dafoe zu Festivalbeginn auch ein Star kam um einen neuen Film vorzustellen, der in diesem Jahr keinen solchen Preis bekam (weil er ihn bereits vor Jahren erhalten hatte), weckt zumindest ein Stück weit die Hoffnung, dass das Festival zugkräftige Namen nicht nur im Gegenzug für einen großen Bahnhof bekommen kann – eine Vermutung, die man manchmal haben konnte, wenn in den vergangenen Jahren noch eher junge Talente ausgezeichnet wurden.

Einen weiteren, neuen Preis gab es in diesem Jahr allerdings auch: der Friedenspreis der Stadt, ins Leben gerufen anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Verträge von Locarno, soll künftig alle zwei Jahre vergeben werden. Erster Preisträger war Mohammad Rasoulof, der im vergangenen Jahr mit »Die Saat des heiligen Feigenbaums« und mit seiner Rede auf der Piazza bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.

Programmatische Änderungen waren im zweiten Jahr unter der neuen Festivalpräsidentin Maja Hoffmann noch nicht zu erkennen, einzig, dass auch Locarno sich jetzt der Serie geöffnet hat und den Sechsteiler »The Deal« von Jean-Stéphane Bron zeigte.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt