Die Sofa-Oscars

Tom Hanks in »Greyhound« (2020). © Apple TV

Tom Hanks in »Greyhound« (2020). © Apple TV

Die Oscarverleihung ist auf April 2021 verschoben, die Spekulationen über die aussichtsreichsten Kandidaten haben trotzdem schon begonnen. Viele davon hatten anders als sonst keine Premiere im Kino, sondern nur auf den Streamingdiensten. Thomas Abeltshauser stellt die aussichtsreichsten vor

In diesem merkwürdigen Jahr, in dem ein Virus unser aller Leben beeinträchtigt und tatsächlich die Kinowirtschaft in ihrer Existenz bedroht, müssen auch die Academy Awards als bedeutendste Auszeichnung der Filmbranche neue Wege gehen. Die Verleihung ist um zwei Monate, von Ende Februar auf 25. April, verschoben worden und erstmals wurden die Regeln dafür gelockert, welche Filme überhaupt in die Auswahl kommen können. Bislang war stets noch eine Kinoauswertung, Minimum eine Woche in Los Angeles, verpflichtend. Das ist in diesem Jahr nun anders. Nicht nur sind Filme zugelassen, die ursprünglich einen Kinostarttermin hatten und notgedrungen auf Video-on-Demand oder eine der Streamingplattformen ausweichen mussten, sondern auch Produktionen, die von vornherein für Netflix & Co produziert wurden. 

Die Umwälzungen der Branche, durch die Pandemie noch beschleunigt, machen also auch vor dem weltweit wichtigsten Filmpreis nicht halt. Noch ist es eine weite Strecke bis zur Oscarnacht. Über Nominierungen lässt sich vor deren Bekanntgabe am 15. März nur spekulieren – aber genau das gehört in der »Awards Season«, der Jahreszeit der Preisvergaben, zum beliebten Spiel. In diesem Jahr wird dabei im Unterschied zu den Vorjahren nicht mehr nur darüber diskutiert, ob es ein paar Filme der Streamer in die diversen Kategorien schaffen und ob sie da tatsächlich Chancen haben. Diesmal gilt die Dominanz von Netflix & Co als ausgemacht. Zwar gibt es den einen oder anderen Titel, der entweder noch vor dem ersten Lockdown oder zwischendurch ins Kino kam und sogar Oscarchancen hat, sei das Christopher Nolans Technikspektakel »Tenet«, der Sundancehit »Minari« des US-Koreaners Lee Isaac Chung über seine Kindheitserinnerungen in Arkansas oder Chloé Zhaos Venediggewinner »Nomadland« mit Frances McDormand als Wanderarbeiterin im Rezessionsamerika. Doch die Übermacht der Streamingdienste im April ist mehr als wahrscheinlich.

Als großer Favorit gilt dabei David Finchers nerdig-spekulatives Biopic »Mank« (Netflix) über den Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz und die Entstehung des Filmklassikers »Citizen Kane«. Zu gut passt dieses die Geschichte Hollywoods reflektierende, das Filmemachen feiernde und sich gegen die Konventionen des Kinomainstreams und politische Einflussnahme positionierende Werk zu einer Filmbranche, die sich damit am Ende auch selbst auf die Schulter klopfen kann. Nominierungen sind in allen Hauptkategorien zu erwarten, von Regie bis Kamera, und nicht zuletzt für Gary Oldman als Mank und Amanda Seyfried als Starlet und Hearst-Muse Marion Davies.

Mindestens genau so ernst nimmt sich Aron Sorkins Gerichtsdrama »The Trial of the Chicago 7« (Netflix) über die sieben politischen Aktivisten, die mit je eigener Agenda am Rande des Parteitags der Demokraten 1968 in Chicago an Protesten gegen den Vietnamkrieg teilnahmen und denen kurz darauf ein medienwirksamer Prozess wegen Verschwörung und Aufhetzung gemacht wurde. Sorkin gelingt mit einer hervorragenden Besetzung (u. a. Eddie Redmayne als Tom Hayden, Sacha Baron Cohen als Abbie Hoffman, Jeremy Strong als Jerry Rubin und Mark Rylance als ihr Verteidiger William Kunstler) ein hoch spannender und komplexer Politthriller, der überzeugend den Bogen zwischen den Bürgerrechtsbewegungen der 60er und von heute spannt und damit in den zutiefst gespaltenen Vereinigten Staaten auf große Resonanz stieß, zumal im Wahlherbst 2020. Ein Film, der all das ist, womit sich die Academy gern schmückt: relevant und im guten Sinne patriotisch, brillant geschrieben und fesselnd inszeniert.

Die Schauspielerin Regina King (die 2019 einen Oscar 2019 als beste Nebendarstellerin in »If Beale Street Could Talk« bekam) fabuliert in ihrem Regiedebüt »One Night in Miami« (Amazon) die Nacht vom 25. Februar 1964, als Cassius Clay mit 22 Jahren den Boxweltmeistertitel im Schwergewicht gegen Sonny Liston gewinnt und den Sieg in der Suite seines Kumpels Malcolm X feiert. Zu ihnen gesellen sich Footballstar Jim Brown und Soullegende Sam Cooke. Das Treffen hat tatsächlich stattgefunden, nur Details sind kaum bekannt. Für den Theaterautor Kemp Powers war es Basis für ein spekulatives Stück, das 2013 Premiere feierte und nun von King adaptiert wurde. Sie erweitert das brillant inszenierte Kammerspiel um zahlreiche Szenen außerhalb des Motelzimmers und reflektiert so auch Rassismuserfahrungen der vier afroamerikanischen Männer. Zugleich gibt sie ihnen viel Raum, ihre psychologisch vielschichtigen Motive auszubreiten, und schafft erstaunlich intime und glaubwürdige Eindrücke der Persönlichkeiten hinter den legendär gewordenen Namen, so fiktiv die Dialoge im Einzelnen auch sein mögen.

King ist, auch das ein relatives Novum, bei weitem nicht die einzige Regisseurin im Oscarrennen. Der Anteil an Filmemacherinnen, deren Werke in diesem Jahrgang hoch gehandelt werden, ist zwar noch immer beschämend gering, aber deutlich besser als in früheren Jahren. Neben »One Night in Miami« und »Nomadland« der chinesisch-amerikanischen Filmemacherin Chloé Zhao, für den bei Redaktionsschluss noch eine Kinoauswertung geplant war, zählen auch Eliza Hittman mit dem nüchternen Abtreibungsdrama »Never Rarely Sometimes Always«, Sofia Coppola mit ihrer versöhnlichen Tochter-Vater-Tragikomödie »On the Rocks« mit Rashida Jones und Bill Murray (Apple TV+) zu den aussichtsreichen Kandidatinnen. 

Deutlich feministischer tritt die Australierin Kitty Green auf, die mit »The Assistant« einen sezierenden Blick auf #Metoo und die Missbrauchskultur in der Filmbranche wirft. Ihr Film, der auf der Berlinale 2020 seine internationale Premiere feierte, dem letzten Präpandemiefestival, handelt vom Arbeitsalltag einer jungen Assistentin in einer New Yorker Produktionsfirma, in der Jane (Julia Garner) den respektlosen Kommentaren ihrer männlichen Kollegen ebenso ausgesetzt ist wie dem erratischen Verhalten ihres Harvey-Weinstein-artigen Bosses. Als eine gut aussehende und noch sehr junge Frau neu eingestellt wird, wächst Janes Verdacht, dass ihr Vorgesetzter seine Machtposition für sexuellen Missbrauch ausnutzt. Green, die bislang vor allem dokumentarisch gearbeitet hat, basierte ihr Drehbuch auf zahlreichen Interviews mit Assistenten und hält damit einer Branche den Spiegel vor, in der Verschwiegenheit zum A und O gehört und die auf diese Weise systematischen Missbrauch mit ermöglicht hat. Ein verstörender, wichtiger Film, der einen Nerv getroffen hat. Ob es für Nominierungen ausreicht, für das Skript etwa, wird sich zeigen.

Noch sind die neuen Inklusionsregeln der Akademie nicht in Kraft, erst von 2024 an müssen nominierte Filme zwei von vier Repräsentationsstandards erfüllen und sollen auf der Leinwand, innerhalb der Crew, in den Studiohierarchien und bei der Talentförderung für mehr Vielfalt sorgen. Doch die Bemühungen für mehr Gleichberechtigung könnten sich bereits in diesem Jahr widerspiegeln. Längst überfällig ist die Würdigung Spike Lees, des New Yorker Filmveterans, der seit seinem Durchbruch mit »Do The Right Thing« 1989 bislang lediglich für das Drehbuch zu »BlacKkKlansman« vor zwei Jahren ausgezeichnet wurde. Mit seinem komplexen Drama »Da 5 Bloods« über eine Gruppe von schwarzen Vietnamkriegsveteranen, die sich nach vielen Jahren auf die Suche nach ihrem gefallenen Kameraden und einen Goldschatz machen, hatte er sich bereits im Frühsommer als preiswürdiger Favorit etabliert. Ursprünglich hätte sein Film im Mai auf dem Festival in Cannes laufen sollen, wo Lee auch als Jurypräsident gesetzt war. Doch »Da 5 Bloods« startete schließlich am 12. Juni direkt auf Netflix. Die zweieinhalbstündige Geschichtsstunde spannt einen Bogen von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 60er über Kritik am US-amerikanischen Imperialismus bis zu #BlackLivesMatter heute und ist in ihrem fulminanten Genremix unbedingt preiswürdig, könnte womöglich aber die auch trotz aller diversitätsfördernden Neuzugänge noch immer überdurchschnittlich weißen und in die Jahre gekommenen Wahlberechtigten überfordern. Als Favorit auf eine Schauspielernominierung gilt Delroy Lindo, der im Film die schwierigste und komplexeste Figur gibt – einen schwarzen Trump-Wähler. Der Ende August mit erst 43 Jahren verstorbene Chadwick Boseman, der in Rückblicken den gefallenen 5. Kameraden gibt, hat gute Chancen auf eine Nominierung als Bester Nebendarsteller. 

Bei den Schauspielkategorien dürften außerdem Amy Adams und Glenn Close in Ron Howards ansonsten ziemlich verrissenem Familiendrama »Hillbilly Elegy« (Netflix) große Chancen haben – beide Auftritte sind mutige Tour-de-Force-Ritte ins Unglamouröse. Auch die 86-jährige Sophia Loren, die im arg rührseligen »Du hast das Leben vor dir« (Netflix) eine Holocaustüberlebende verkörpert, die sich mit einem kriminellen Waisenjungen anfreundet, gilt als Favoritin, genau wie Maria Bakalova, die mit ihrem mutigen Auftritt als Tochter in der Sacha-Baron-Cohen-Satire »Borat: Anschluss Moviefilm« (Amazon) überraschte. In der Männerkategorie wird auch Paul Bettany in Alan Balls 70er-Jahre-Comingoutdrama »Uncle Frank« (Amazon) hoch gehandelt, genau wie Riz Ahmed, der in »Sound of Metal« einen sein Gehör verlierenden Heavy-Metal-Drummer spielt.

Bei bis zu zehn Plätzen in der Kategorie Bester Film ist das Feld der Nominierten ziemlich offen. Netflix ­jedenfalls scheint mit seinen sehr unterschiedlichen Produktionen besonders gut aufgestellt: Ihre thematische Bandbreite und personelle Diversität vor und hinter der Kamera würden den Oscars allemal gut zu Gesicht stehen. Zu den bereits genannten kommen noch Titel hinzu wie »Mein 40-jähriges Ich«, eine halb autobiografische Tragikomödie, in der die afroamerikanische Comedien Radha Blanks pointiert und witzig den steinigen Weg reflektiert, den sie als nicht weiße Frau in New Yorks Theaterszene gehen musste. »The Boys in the Band« wiederum zeigt 40 Jahre nach der ersten Adaption des Off-Broadway-Stücks über die Geburtstagsfeier einer schwulen New Yorker Clique Ende der 60er, wie viel und zugleich wie wenig sich bei aller Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Akzeptanz geändert hat. Produziert hat die Neuverfilmung Ryan Murphy, der als Regisseur mit dem schillernden Campmusical »The Prom« zum Jahresabschluss für queere Sichtbarkeit sorgt. Der glänzend aufgelegte Cast um Meryl Streep, James Corden und Nicole Kidman könnte Chancen auf die eine oder andere Nominierung haben.

Ebenfalls berechtigte Hoffnungen machen können sich das Bluesdrama »Ma Rainey's Black Bottom« (Net­flix) mit Viola Davis und Chadwick Boseman und der US-Iraner Ramin Bahrani mit der Verfilmung des indischen Bestsellers von Aravind Adiga »The White Tiger« (Netflix, 22. Januar).

Etwas ins Hintertreffen geraten könnte bei all dem guten Willen zu mehr Sichtbarkeit ein antiquiert anmutendes Projekt wie der Kriegsfilm »Greyhound: Schlacht im Atlantik« (Apple TV+), bei dem der zweifache Oscarpreisträger Tom Hanks nicht nur die Hauptrolle übernommen, sondern auch das Drehbuch geschrieben hat. Hanks spielt darin einen verdienstvollen Navyoffizier, der im Winter 1941 einen Schiffskonvoi über den Atlantik an die Normandieküste bringen soll und dessen Flotte auf dem Weg dorthin immer wieder von deutschen Nazi-U-Booten angegriffen wird. Hanks verkörpert diesen anständigen, aufrechten Mann eindringlich und so überzeugend, wie es die dünne Figurenentwicklung ihm ermöglicht, doch davon abgesehen erweist sich der altmodisch und mit verblüffend schlechten digitalen Effekten inszenierte Film eher als cineastischer Schiffbruch. Auszuschließen ist er damit als Anwärter keineswegs: Die Academy liebt Hanks und patriotische Geschichten über das gute, alte (sprich: Prä-Trump-) Amerika.

Auf den ersten Blick leicht zu unterschätzen ist wiederum die Komödie »Eurovison Song Contest: The Story of Fire Saga«, die sich als sehr viel mehr denn nur alberner Zeitvertreib und Parodie des Eurovision Song Contest erwies. Will Ferrell ist ziemlich brillant als trotteliger Isländer, der seit Kindertagen davon träumt, einmal beim internationalen Gesangswettbewerb aufzutreten. In einem sehr gelungenen Balanceakt aus überbordendem Camp mit schrillen Kostümen und durchgeknallten Choreographien, die mit viel Liebe zum Detail und gar nicht so übertrieben das Unglaubliche dieses oft als Eurotrash verschrienen Spektakels widerspiegeln, erzählt der Film im Kern die berührende Geschichte eines obsessiven Nerds, der gegen jede Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände einfach immer weitermacht. Die Academy Awards sind als nicht besonders komödienaffin bekannt, aber für einen Listenplatz in der Originalsongkategorie sollte es bei diesem mitreißenden Discosoundtrack mindestens reichen. Aber wer weiß, vielleicht überraschen die Akademiemitglieder in diesem merkwürdigen Jahr ja mit ihrem Herzen für diese seelentröstende Feier des Eigensinns.

Im Endspurt haben sich noch zwei wahrscheinliche Kandidaten eingereiht. George Clooney gelingt in seinem dystopisch-melancholischen Science-Fiction-Drama »The Midnight Sky« (Netflix) eine erstaunliche Gratwanderung aus Verzweiflung und Hoffnung und er könnte damit einen Nerv bei den Oscarwählern treffen. Und Paul Greengrass könnte mit »Neues aus der Welt« das Feld noch einmal neu aufmischen. Sein episches Westerndrama mit Tom Hanks (in seiner zweiten Oscarchance dieses Jahr) und der 12-jährigen Berlinerin Helena Zengel (Shootingstar aus »Systemsprenger« 2019 in ihrem US-Debüt) sollte ursprünglich ins Kino kommen, nun hat sich auch hier Netflix die weltweiten Rechte gesichert und wird den Film im Februar starten. Mit der auf Ende April verschobenen Preisverleihung ist auch die Frist der Filmstarts, um nominiert werden zu können, nach hinten gerückt: auf 28. Februar, just den Termin der ursprünglichen Oscarnacht.

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