»Mank«: Archäologie der Inspiration

»Mank« (2020). © Netflix/Gisele Schmidt

»Mank« (2020). © Netflix/Gisele Schmidt

Hätte es »Citizen Kane« ohne Herman J. Mankiewicz gegeben? David Finchers Film »Mank« erinnert an den großen Drehbuchautor und feiert das Kino als Kollektivkunst

Die Abblenden sind außerordentlich in diesem Film: Sie zögern, lassen unerhörte Zeit verstreichen, bevor sie das Ende einer Szene besiegeln. Der Augenblick soll noch nicht gleich vorüber sein, er darf ausklingen. Vielleicht ist der Schlusspunkt der Szene zu schnell erreicht. Es gibt lose Fäden, unbedachte Aspekte, die in ihr Recht gesetzt werden müssen. Dann lenkt die Montage ein und wartet, bis sie den Moment endgültig dem Dunkel überantwortet. 

Nicht immer merkt man sofort, was an Unerledigtem übrig blieb in einer Sequenz. Aber mitunter schon. Einmal, als Mank seine Stenotypistin Rita süffisant abkanzelt, lehrt sie ihn, ihre Bildung und Intelligenz zu respektieren: Sie weiß genau, wann die Schlacht von Hastings stattfand, und auch, wie kalt es an diesem Tag war. Das sagt sie fast schon ins Schwarzbild hinein. Alles ist wichtig am Verhältnis der beiden, keine Nuance darf unterschlagen werden. David Fincher und Kirk Baxter üben sich in erstaunlicher Geduld: Wo Regisseure und Cutter es sonst nicht abwarten können, das Überschüssige einer Drehbuchszene zu kappen, lassen sie das Timbre des Moments gewähren. Nun ist die Abblende dem aktuellen Kino als Stilmittel ein wenig abhandengekommen – ein beherzter Schnitt spart kostbare Sekunden. Aber in »Mank« ist diese achtsame inszenatorische Geste eine Ehrensache. 

»Mank« verschiebt die Blickwinkel, erzählt von dem, was sonst nicht überliefert wird. Er handelt nicht von der Entstehung eines der berühmtesten Filme aller Zeiten, sondern von der Arbeit an dessen Drehbuch. Herman J. Mankiewicz (Gary Oldman), von seiner Alkohol- und Spielsucht ausgebrannt, diktiert im Sommer 1940 der Sekretärin Rita Alexander (Lily Collins) den ersten Entwurf eines Szenarios, das vorerst den Titel »American« trägt. Er tut es für ein Honorar, wie er es in dieser Höhe schon lange nicht mehr erhalten hat, auf Geheiß von Orson Welles, aber auch aus eigenem Antrieb. Der Film, für den er das Fundament legt, wird den Ruhm des Regisseurs begründen, war aber zugleich die jahrzehntelange Herzensangelegenheit des Drehbuchautors, der seither weitgehend in Vergessenheit geriet: »Citizen Kane«. Fincher inszeniert diese Archäologie der Inspiration beinahe wie einen Film aus jener Epoche, Kameramann Erik Messerschmidt taucht sie in ein weiches, traumverlorenes Schwarzweiß, in dem die Darsteller sichtbar vor Rückprojektionen agieren. Die Filmmusik von Trent Reznor und Atticus Ross changiert zwischen avanciertem Swing und robuster Moderne. Fincher imitiert die verblichenen Konventionen nicht, sondern interpretiert sie neu. Er rekonstruiert das analoge Filmemachen mit allen Mitteln, die das digitale Zeitalter zur Verfügung stellt, bis hin zu den obsoleten Überblendungszeichen für den Wechsel der Filmrollen. Eine Etüde in prunkender, argwöhnischer Nostalgie. Eines jedoch unterlässt der Regisseur tunlichst: den Stil von Welles zu imitieren. Der bewältigt in »Citizen Kane« die Szenenwechsel mit behänden, atemlosen Schnitten, die zukunftstrunken wirken, obwohl sie meist in die Vergangenheit führen. Welles spielt eine untergeordnete, wenngleich entscheidende Rolle im Film; sein Titelheld ist Fincher schillernd genug. Ein Sakrileg. 

Der Titel lässt sich als Polemik lesen, ist aber erst einmal programmatisch. »Mank – The Wit, World and Life auf Herman J. Mankiewicz« heißt eine bahnbrechende Biografie, mit der Richard Meryman 1978 an den fast vergessenen Autor erinnerte. Fincher denkt den Untertitel des Buches mit, genau in dieser Reihenfolge. In seinem Film fungiert der Kosename als Indiz der Familiarität. Der Drehbuchautor geht in den Hollywoodstudios ein und aus, ist dort nicht immer gern gesehen, gehört aber unverzichtbar zur Szenerie. »Mank« erzählt mithin, wie die Branche auf den Schock reagierte, dass Welles, ein Neuling von der Ostküste, ein Theater- und Radiostar, einen einzigartigen Vertrag erhielt, der ihm als Autor, Produzent, Darsteller und Regisseur uneingeschränkte Freiheiten zugestand. Manks Perspektive ist freilich nicht mit der des Systems identisch: Er ist ein Insider, der sich in der Traumfabrik stets als Außenseiter fühlte. 

Als Mankiewicz 1926 nach Hollywood kam, hatte er sich einen Namen als Auslandskorrespondent, Theaterkritiker und Bühnenautor gemacht. Er bildete die Speerspitze der Intellektuellen von der Ostküste, die bald beim aufkommenden Tonfilm dringend als Dialogautoren gebraucht wurden. »Hier sind Millionen zu verdienen«, telegrafierte er seinem Freund Ben Hecht, »und die einzige Konkurrenz sind Idioten.« In nur einem Jahr stieg Herman zum Leiter der Drehbuchabteilung von Paramount auf, bei einer seinerzeit sensationellen Wochengage von 4 000 Dollar. Kaum je schrieb er ein Drehbuch allein, war in den 30er Jahren aber an einigen Sternstunden geistsprühenden Witzes beteiligt. Er wirkte an Filmen der Marx Brothers mit sowie an MGM-All-Star-Produktionen wie »Dinner um Acht«; von ihm soll die Idee stammen, die Rahmenhandlung von »Der Zauberer von Oz« in Schwarzweiß zu drehen. 

Zu den Talenten, die Mank in die Traumfabrik holte, gehörte sein jüngerer Bruder Joseph L., der als Oscarsammler und Autor-Regisseur von »Alles über Eva«, »Die barfüßige Gräfin« und »Cleopatra« später den Ruhm des Älteren übertreffen sollte. Sie begründeten eine der ganz wenigen Hollywooddynastien, deren Einfluss nicht der Macht, sondern literarischem Talent geschuldet war. In Finchers Film tragen sie die kokette Bürde, jeweils die Klügsten im Raum zu sein. Ihr Vater Franz war 1892 aus Berlin nach New York emigriert, wo er im Alter von 40 Jahren noch ein Studium absolvierte und Professor am New York City College wurde. Er stellte hohe, unerfüllbare Ansprüche an seine Söhne. Die Rivalität der Brüder setzte sich in der nächsten Generation fort. Hermans Kinder wurden ebenfalls Journalisten und Autoren. Sein Sohn Don erhielt eine Oscarnominierung für das Drehbuch zum Todesstrafendrama »Lasst mich leben«, sein Bruder Frank fungierte als Wahlkampfmanager des Demokraten George McGovern, sein Schwiegersohn Peter Davis drehte aufsehenerregende Dokumentarfilme und wurde für seinen Vietnamfilm »Hearts and Minds« mit dem Oscar ausgezeichnet. ­Josephs Sohn Tom wirkte in den 70er Jahren an den Drehbüchern mehrerer Bond-Filme sowie »Superman« mit; ein Jahrzehnt später redigierte er als Showrunner der Serie »Hart aber herzlich« ziemlich rabiat die Bücher seines Cousins Don. 

Gary Oldman spielt Mank als den schlecht gepanzerten Zyniker, der Herman J. war. In Hollywood ist er überbezahlt und unterfordert, der Hedonismus der Filmmetropole zehrt an ihm, die Lohnschreiberei erfüllt ihn mit Abscheu. Seine geistreichsten Ideen steckt er nicht in die Drehbücher, sondern überantwortet sie der Flüchtigkeit des Alltags. In Europa wäre er gewiss ein Kaffeehausgenie geworden, in Hollywood gibt er sich als ein verkannter Voltaire. Es ist eine launige Darstellung, aber Manks Plaudereien sind ein Minenfeld. Der Sarkasmus hält ihn über Wasser. Meist merkt er zu spät, wann es ernst wird. 

Das Schöne an Finchers Film ist, dass »Citizen Kane« nicht seine Prämisse ist, sondern das unverhoffte Ergebnis eines Prozesses. Mank weiß noch nicht, dass dies sein bestes Drehbuch werden wird. Es überrascht ihn selbst am meisten, dass er endlich sein schöpferisches Potenzial erfüllt. Dabei hat ihn sein gesamtes kreatives Leben hierhin geführt: Seit 15 Jahren (das erzählt der Film nicht) trägt er sich mit dem Plan, über den Zeitungsmogul William Randolph Hearst zu schreiben, über sein Imperium, seine politischen Hasardspiele, seine unangefochtene Macht und seine loyale Geliebte, den Filmstar Marion Davies. Er genießt das Vertrauen des Verlegers (den Charles Dance einnehmend klug spielt), der ihn als unberechenbar eloquenten Gast in seinem Lustschloß San Simeon schätzt. Mit Davies (Amanda Seyfried, nicht weniger einnehmend und klug) verbindet Mank eine jener »dummen platonischen Liebesgeschichten«, die seine Frau Sara (Tuppence Middleton, wunderbar sturmerprobt) toleriert. Das Vertrauen verrät er, in dem er »American« bzw. »Citizen Kane« schreibt: offenen Auges, mit der rücksichtslosen Integrität eines Journalisten, der auch in geselliger Runde sein Notizbuch parat hält. 

»Citizen Kane« ist eine Reflexion über die Erinnerung, ihre Unentrinnbarkeit ebenso wie ihre Trugschlüsse. Niemand, der den Film je gesehen hat, wird den Monolog über die junge Frau auf der Fähre und ihren Sonnenschirm vergessen, deren Anblick Kanes Vertrauten Bernstein seit Jahrzehnten verfolgt. Im Gegenzug sind die Aussagen der Zeugen und Weggefährten, die von Kane berichten, unzuverlässig, von eigenen Interessen oder Kränkungen geleitet. 

Das Drehbuch zu »Mank«, das David Finchers Vater Frank vor zwei Jahrzehnten schrieb (noch bevor sein Sohn Filmregisseur wurde), vertraut sich dieser Unwägbarkeit der Erinnerungen an. Seine Rückblendenstruktur arrangiert die Geschehnisse neu, verändert die Chronologie der Ereignisse, flicht historisch nicht verbürgte Figuren oder Episoden ein und stellt legendäre Sätze in einen anderen Kontext (das nach Hollywood lockende Telegramm geht an einen anderen Adressaten). Manks zweitberühmtester Satz über das Filmgeschäft kommt in ihm nicht vor: »There but for the grace of God«, sagte er einmal, als er Welles durch das Studio stolzieren sah, »goes God.« 

Es ist nicht auszuschließen, dass es in Frank Finchers erstem Drehbuchentwurf noch stand. Als sein Sohn es las, war er erschrocken, wie militant es gegen Welles Partei ergriff. Es wirkte wie eine Rache, sagte David Fincher im Interview mit »Vulture«: wie eine alte Rechnung, die beglichen werden musste. Sein Vater, ein Journalist, wollte Mank endlich als den wahren Autor von »Citizen Kane« in sein Recht setzen. Dieser erste Entwurf war maßgeblich geprägt von Pauline Kaels Essay »Raising Kane«, der 1971 in zwei Teilen im »New Yorker« erschien, jener Zeitschrift, deren erster Theaterkritiker Herman J. Mankiewicz einmal gewesen war. Der Artikel war eine Breitseite gegen die auteur theory, die Kaels Rivale Andrew Sarris ein Jahrzehnt zuvor formuliert hatte, und zugleich gegen den Geniekult, der um Welles betrieben wurde. Aus dem Streit um den Drehbuch-Credit von »Citizen Kane« wurde eine Schlacht. 

Kael versucht in ihrem Essay nachzuweisen, wie maßgeblich, ja dominant Mankiewicz' Beitrag war. Sie argumentiert oft sehr überzeugend, wenn sie frühere Drehbucharbeiten heranzieht, in denen er bereits bestimmte Situationen (etwa Kanes Begegnung mit seiner zweiten Frau) oder Stilmittel ausprobierte. So experimentierte er bereits früher mit der prismatischen Nacherzählung einer Biografie; die Wochenschau, in der eingangs Kanes Leben rekapituliert wird, erinnerte sie an Mankiewicz' lang gehegtes Projekt »The Mad Dog of Europe«, ein Pamphlet gegen Hitler, das zwar kein Studio anrühren wollte, das aber zum Boykott der Filme des Drehbuchautors in Nazideutschland führte. 

Welles' Zögern, den Autor im Vorspann zu nennen, wird in Finchers Film zu einem Kabinettstück der Vielschichtigkeit. Die Weigerung des Regisseurs ist nicht nur seinem Ego geschuldet, sondern hat auch eine juristische Bewandtnis (Welles würde vertragsbrüchig, wenn er nicht als Autor genannt würde). Sein Wutausbruch inspiriert Mank sogleich, die Szene umzuschreiben, in der Kanes zweite Frau ihn verlässt. 

Im Vorspann von »Mank« wird nur ein Autor genannt: Frank Fincher. Allerdings haben sein Sohn und der Mitproduzent Eric Roth in späteren Fassungen entscheidende Veränderungen vorgenommen. Die alleinige Nennung Franks ist nicht nur eine sympathische Geste der Sohnesliebe, sondern zollt dem Anstoß Respekt und der journalistischen Verve, die das Buch prägt. Das passt zum großzügigen Erzählgestus dieses Films, in dem auch die Widersacher brillante Dialoge erhalten. 

So wird »Mank« zu einer Hommage an das Kino als einer Gemeinschaftskunst. In der Zusammenarbeit von Mank und Welles kollidieren unterschiedliche Visionen miteinander, auch gegensätzliche biografische Linien. Der Drehbuchautor brachte seine Erfahrung ein, nicht zuletzt des eigenen Niedergangs. Welles brachte seine untrügliche Intuition mit, zuerst für den Aufstieg und dann den Fall ihres Helden. Sie brauchten einander: Mank kannte Kane genau und Welles verstand ihn. 

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