Berlinale: Interview mit Jenni Zylka

»Mutig, deutlich und sehr laut«
Jenni Zylka

Jenni Zylka

Der junge deutsche Film bezieht Stellung in Gegenwartsfragen. Sagt die Autorin Jenni Zylka, die gerade die Leitung der Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino übernommen hat

Sie sind oder waren mal Musikerin – als Jennielee Lewis mit 15 –, außerdem Tontechnikerin, Stand-up-Comedian, Linguistin, Journalistin, Filmkritikerin, Moderatorin und Roman- beziehungsweise Drehbuchautorin. Hab ich was vergessen? 

Jenni Zylka: Bestimmt. (lacht) Da gab es noch einige Jurygeschichten und viele kleine Jobs, die man unter dem großen Schirm Kulturjournalistin zusammenfassen kann. 

Wie sind Sie zur Perspektive Deutsches Kino gekommen?

Ich arbeite seit 1999 für die Berlinale, habe da bis zum letzten Jahr die Pressekonferenzen moderiert und die Gespräche nach den Filmen im Kino, und ich habe fast ebenso lange im Kuratorium des Panoramas gearbeitet. Ich kenne die Strukturen der Berlinale also sehr gut und schaue mir seit fast 20 Jahren jedes Jahr um die 800 Filme an, natürlich nicht alle ganz, das schafft man ja gar nicht; aber ich sichte und pitche Filme schon lange für das Panorama. Und als Linda Söffker dann im vergangenen Jahr ging, hab ich gedacht, vielleicht sollte ich mal was anderes machen und mich einmal im Leben auf eine Festanstellung einlassen. Wir hatten bereits häufiger zusammengearbeitet, die unterschiedlichen Sektionen der Berlinale stehen ja im engen Austausch. Alles, was ich vorher gemacht habe, mache ich immer noch, Filme schauen, evaluieren, darüber reden, darüber schreiben, Leute vollquatschen, wie gut ich die finde, nur der Hintergrund hat sich verändert. Jetzt hat es einen deutlich anderen Impact. Das finde ich spannend. 

Wäre es da nicht eine Option gewesen, Wieland Speck als Leiterin des Panoramas zu beerben? 

Das stand damals gar nicht zur Debatte. Als Wieland ging, stand Michael Stütz als Nachfolger bereits fest. Ich war ja nicht unzufrieden mit meiner freiberuflichen Tätigkeit. Ich hab die letzten 20 Jahre genau das gemacht, was ich immer machen wollte. Der Unterschied liegt, glaube ich, am Alter. Irgendwie kam es mir vor wie die letzte Chance, noch mal etwas anderes zu machen. Damals stand das für mich noch nicht an.

Das Panorama ist ja die zweitgrößte Sektion, was die Bedeutung angeht. Viele sagen sogar, es sei der bessere Wettbewerb. Dort geht es um große, internationale Filme, da gibt es Stars und liebgewonnene Gäste, die mit jedem Film wiederkommen. Das ist bei der Perspektive deutlich anders. Was kommt da auf Sie zu? 

Ich habe ja schon immer viele deutsche Filme geschaut, in jeder Sektion spielen deutsche Filme eine wichtige Rolle. Was mich jetzt gereizt hat, ist die Aufgabe, aus Hochschulabschlussfilmen, also Debüts oder höchstens zweiten Filmen die besten auszuwählen – und das im Rahmen eines A-Festivals, also für ein internationales Publikum. Es gibt keinen Grund, warum deutsche Filme nicht genauso losgehen und die ganze Welt überzeugen können wie andere. Das Niveau ist natürlich hoch und die Konkurrenz groß, wenn man sich im internationalen Rahmen bewegt. Der deutsche Film nimmt da eine viel geringere Rolle ein. Zumal wenn man Debüts auswählt. Es gibt eben nicht so viele erste oder zweite Filme pro Jahr. Ich habe jetzt rund 230 Filme gesichtet, und das für nur acht Positionen. Dabei habe ich einen Slot mit drei mittellangen Filmen besetzt, bleiben sieben Langfilme. Das ist natürlich sehr wenig. Umso besser ist die Auswahl geworden. 

In welchem Verhältnis stehen Sie zum Max Ophüls Preis in Saarbrücken? Das Festival ist ja darauf beschränkt, junge ­deutschsprachige Filme zu zeigen, und nimmt ebenfalls nur erste und zweite Filme. Kommen Sie sich da nicht ins Gehege? 

Die Filme, die in Saarbrücken laufen, zeige ich natürlich nicht. Ich will nur in absoluten Ausnahmefällen Filme nachspielen. In der Perspektive sollen vor allem Weltpremieren laufen. Und viele Filmemacher wollen gern auf der Berlinale laufen. Ich habe da quasi ohne eigenes Zutun in eine Machtposition eingeheiratet, die mir sehr zugutekommt. Ich habe in diesem Jahr die Auswahl allein gemacht, weil ich einen Überblick bekommen wollte, und das dann mit Saarbrücken abgesprochen. Da gab es kein Problem. 

Was interessiert Sie am deutschen Film?

Ich habe in meinem Leben natürlich sehr viele nichtdeutsche Filme gesehen und mich immer wieder in ganz unterschiedliche Aspekte verliebt. Trotzdem bin ich mir nicht so sicher, ob ich immer alles verstanden habe, was diese Filme im Kern ausmacht. Es ist nicht mein Land, nicht meine Sprache, oft nicht meine Mentalität. Das ist beim deutschen Film etwas anders. Wegen der Sprache kann ich zum Beispiel das Schauspiel besser evaluieren. Andererseits: Die Filme, die ich in diesem Jahr ausgewählt habe, sind zwar deutsche Produktionen, spielen aber vielfach auf der ganzen Welt und schneiden globale Themen an. Die typisch deutsche Geschichte gibt es ohnehin nicht, muss es auch nicht geben. In jedem gelungenen Film muss etwas Globales, etwas Universelles stecken. 

Eine Neuerung ist das Programm Perspektive Match. Was passiert da? 

Das ist eine Idee von Linda, die im vergangenen Jahr wegen Corona nicht stattfinden konnte. Wir wollen das Augenmerk auf die verschiedenen Gewerke des Films lenken, zum Beispiel Schnitt, Ton, Kamera oder Sounddesign, und diese Gewerke dann miteinander ins Gespräch bringen. Die junge Sounddesignerin des Films »Geranien«, ­Daria Somesan, die einen wunderbaren Job gemacht hat und diesen kleinen Ruhrgebietsfilm richtig gut zum Klingen bringt, trifft zum Beispiel auf Frank Kruse, der für Tom Tykwers »Ein Hologramm für den König« das Sounddesign gemacht hat. Wir zeigen den Film, und danach kommen die beiden im Saal für 30 bis 45 Minuten ins Gespräch. Außerdem hab ich noch Menschen aus den Bereichen Schnitt, Musik und Schauspiel eingeladen, da kommt dann zum Beispiel Jenny Schily mit dem Film »Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern«.

Wie verhält sich der deutsche Film zu den großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit? 

Sehr mutig, deutlich und sehr laut, besonders im Dokumentarfilm. Der Film »Vergiss Meyn Nicht« über den Aktivisten Steffen Meyn, der im Hambacher Forst zu Tode gestürzt ist, ist unglaublich intensiv. Er benutzt Bilder, die Meyn selbst mit seiner Helmkamera aufgenommen hat. Das ist wirklich ein ungeheuer aufregendes und unfassbares Dokument, das die Frage stellt, was Aktivismus darf oder muss. Oder »Atomnomaden« über Menschen, die in Wohnwagen von AKW zu AKW reisen und dort trotz der hohen Strahlung Reinigungsarbeiten ausführen. 

Identitätsfindung und sexuelle Orientierung sind in den letzten Jahren ein großes Thema des jungen deutschen Films gewesen. Ist das weiterhin so?

Ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie noch vor, sagen wir, fünf Jahren. Die gesellschaftliche Toleranz ist – zum Glück – größer geworden, vor allem aber ist das Bewusstsein größer, dass es verschiedene sexuelle Identitäten gibt, also mehr als nur zwei. In unserer Gesellschaft ist die sexuelle Orientierung nicht mehr so wichtig. Es wird darum eher beiläufig erzählt. Es gibt bei mir allerdings mehrere Filme, die sich mit Genderklischees ausei­nandersetzen. In »Elaha« zum Beispiel geht es darum, dass eine junge Frau, eine Deutsch-Kurdin, ihr Jungfernhäutchen rekonstruieren lassen will und sich dann fragt, warum sie das überhaupt tun muss. 

Was erwartet man vom Film jenseits der leidenschaftlichen Umsetzung?

Das ist schon das Wichtigste. Auf manche Gewerke schau ich mehr als auf andere, da stehen Drehbuch, Regie und Schauspiel tatsächlich im Vordergrund. Musik ist mir auch sehr wichtig. Da ich es ja viel mit Debütanten zu tun habe, kann ich auch großzügig sein, wenn nicht alles perfekt ist. Es muss diesen Moment geben, in den ich mich verliebe, eine Szene vielleicht nur, aber eine, die bleibt. 

Wie emotional darf Kino werden, wie emotional muss es sein?

Das kommt tatsächlich drauf an. Kino ist ja immer eine Absprache zwischen dem Film und dem jeweiligen Zuschauer. Jeder ist da anders. Ich bin gern emotional angefasst. Wenn ich heule, heißt das nicht, dass der Film gut ist, aber ich heule schon öfter mal. Hauptsache, es wirkt authentisch. Und dann kann mich ganz viel berühren. Bei »Ash Wednesday« zum Beispiel haben sie eine ganze Favela im Studio nachgebaut. Das fand ich großartig.

Das junge Kino hat kaum große Namen bei Cast und Crew, an denen man sich orientieren kann. Ist das ein Nachteil? Oder genießen Sie die Vorbehaltslosigkeit?

Beides. Klar lassen sich unbekannte Akteure schlechter verkaufen, aber diese neuen Talente zu entdecken, das macht unheimlichen Spaß. Da sieht man dann Schauspieler oder Schauspielerinnen, die alles geben, und man fragt sich: Was ist das, warum ist die so gut? Selbst bei nicht hauptberuflichen Darstellern wie Marion Ottschick in »Geranien«. Das ist genauso toll, wie den Stars zuzuschauen.

Jenni Zylka schreibt auch für epd Film.

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