Iran: Ins Offene
Am Set von »Ein einfacher Unfall« (2025). © Les Films Pelleas
Seit den »Frau, Leben, Freiheit«-Protesten im Jahr 2022 sind Irans Regimegegner noch mutiger, bewusste Verstöße gegen die Moralvorschriften des Mullah-Regimes immer häufiger geworden. Auch Filme gehen größere Wagnisse ein, trotz nach wie vor heftiger Sanktionen. Subtile Anspielungen weichen offenem Affront und erstaunlicher Freiheit, auch formal. Jetzt kommt Jafar Pahanis Film »Ein einfacher Unfall« ins Kino, der in Cannes die Goldene Palme gewann
Heshmat, ein liebender Familienvater, holt seine Frau von der Arbeit und seine kleine Tochter von der Schule ab. Man geht einkaufen, Pizza essen, und später am Abend hilft Heshmat seiner Frau beim Haarefärben. Am nächsten Morgen sehen wir ihn sehr früh im Büro, wie er sich Frühstück macht. An der Wand leuchten ein paar rote Lämpchen. Als sie auf Grün umschalten, drückt Heshmat einen Knopf, und wir sehen Falltüren, die sich unter Füßen öffnen. Die Füße zappeln noch etwas in der Luft, dann hängen sie leblos.
Die erste Episode aus Mohammad Rasoulofs Film »Doch das Böse gibt es nicht« von 2020 – er kreist in vier Teilen um die Todesstrafe und ihre menschlichen und ethischen Konsequenzen – zeichnet ein schockierendes Bild der Banalität des Bösen und der individuellen Verrohung in einem Land, in dem im vergangenen Jahr offiziell 972 Menschen hingerichtet wurden. Neben Mördern und Drogendealern sind immer wieder auch regimekritische Künstler unter den zum Tode Verurteilten, etwa der Rapper Mohsen Shekari, hingerichtet 2022, oder der Dichter Peyman Farahavar, verurteilt im Mai 2025 wegen Texten, in denen er Umweltzerstörung und Korruption angeprangert hatte.
Doch auch abgesehen von existenzieller Bedrohung: Wie man an diesem System bereits im Alltag verzweifeln kann, zeigt ein anderer Episodenfilm, die Satire »Irdische Verse« (2023) von Ali Asgari und Alireza Khatami. Sie beleuchtet in strenger formaler Gestaltung Behördenwillkür und Machtmissbrauch: Jede Episode zeigt frontal eine Person, die einer Autoritätsperson gegenübersitzt, welche man aber nur hört. In teils absurden Dialogen vollziehen sich Paragrafenreiterei, demütigende Rituale und auch sexuelle Übergriffe. Das konsequent willkürliche Ende: Ein Erdbeben legt Teheran in Schutt und Asche – ein Wunschtraum?
Repression, Korruption, Behördenwillkür und Machtmissbrauch sind in den vergangenen Jahren nicht geringer geworden unter dem Regime; auch Filmemacherinnen und Filmemacher müssen trotz internationalen Preisregens – Oscars, Goldene Palmen, Löwen, Bären und Leoparden sowie jede Menge nationale Filmpreise in Koproduktionsländern – nach wie vor um ihre Freiheit und Unversehrtheit fürchten. Von Passentzug und Reiseverbot über Hausarrest und mehrjährige Haftstrafen bis hin zu Peitschenhieben reichen gängige Strafen für »Propaganda gegen die Islamische Republik«, »Verstoß gegen die öffentliche Moral«, »Förderung der Prostitution« und sogar »Gefährdung der nationalen Sicherheit«. Schaut man sich die langen Listen an Repressalien gegen Filmschaffende an – fast alle der in diesem Text erwähnten sind davon betroffen –, kann man nur allergrößte Hochachtung empfinden für deren Mut.
Sie sind sogar lauter geworden, formulieren Gesellschafts- und Systemkritik immer deutlicher, auch wenn sie ihre Filme oft trickreich produzieren müssen. Beispielhaft etwa Jafar Panahi, Jahrgang 1960, einer der wichtigsten aktiven Regisseure und zugleich Bindeglied zwischen der Generation des großen Abbas Kiarostami, als dessen Assistent seine Filmkarriere begann, und der jüngeren Filmgeneration. Werke wie »Dies ist kein Film« (2011), »Drei Gesichter« (2018) oder »Taxi Teheran«, Gewinner der Berlinale 2015, entstanden ohne Genehmigungen, wurden im Guerillastil gedreht und außer Landes geschmuggelt. So auch Panahis neuer Film »Ein einfacher Unfall«, der in Cannes die Goldene Palme gewann und französischer Kandidat für die kommenden Oscars ist.
So konfrontativ der Plot des Films ist, so klassisch ist seine Inszenierung. Mit seinem realistischen Duktus, der nüchternen Erzählweise, den langen Einstellungen, dem äußerst genauen Blick für psychologische Nuancen knüpft er an die »Kardinaltugenden« des iranischen Autorenfilms an, für die heute vor allem Asghar Farhadi steht. 2011 sorgte der mit »Nader und Simin – Eine Trennung« weltweit für Furore und holte den ersten Oscar für Iran. Und auch in seinen folgenden Filmen, darunter »The Salesman« (2016, Oscar Nummer zwei) und »A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani« (2021), spiegelte er gesellschaftliche Verhältnisse in privaten Geschichten, zeigte anhand von Beziehungen und individuellen moralischen Konflikten, wie sich soziale Realität im Alltag niederschlägt. Gesellschaftskritik ist aus Farhadis Filmen stets herauszulesen, war durch seine Konzentration auf »Tragödien des Alltäglichen« und seine oft metaphorisch angelegten Plots jedoch subtil genug, die Zensurmechanismen zu unterlaufen – bewährte Strategien iranischer Filmemacher*innen seit der islamischen Revolution.
Die schärfsten Anklagen gegen Unrecht und Willkür des Regimes kamen in der Vergangenheit verständlicherweise aus der geschützteren Sphäre des Exils, doch auch hier zeigt sich, dass in den 2020er-Jahren die Wut noch gewachsen ist. Zar Amir Ebrahimi, im Iran als Soap-Darstellerin (»Narges«) berühmt geworden und nach einem »Sexvideo-Skandal« im Jahr 2006 – für den sie zu 99 Peitschenhieben und zehn Jahren Berufsverbot verurteilt wurde – zur Flucht gezwungen, hat gleich zwei herausragende und vielfach preisgekrönte Genrefilme über Repression und Korruption geprägt: in der Hauptrolle einer Journalistin, die einem Serienmörder auf die Spur kommt, in der europäischen Koproduktion »Holy Spider« (2022) des ebenfalls exilierten Ali Abbasi, und als Darstellerin wie auch Co-Regisseurin an der Seite des Israelis Guy Nattiv in »Tatami« (2023). In einer Mischung aus Sportlerdrama und Politthriller erzählt »Tatami« von einer iranischen Judoka bei der WM in Tiflis, die einen Sieg nach dem anderen feiert – bis ihr Verband sie unter massiven Drohungen zum Aufgeben zwingen will, damit sie im Finale nicht auf den »Erzfeind« Israel treffen kann. An der Willensstärke der jungen Sportlerin (Arienne Mandi), die trotz des Drucks weiterkämpft, sogar mehr noch am inneren Konflikt ihrer Trainerin (Zar Amir), die erst widerständig ist, dann ihren Vorgesetzten nachgibt, schließlich aber doch für ihren Schützling einsteht, beleuchtet der Film eindringlich die psychischen Konsequenzen einer rücksichtslosen autoritären Herrschaft. Der Psychothriller »Holy Spider« zeichnet anhand eines realen Serienmörderfalls in der »heiligen« Stadt Maschhad ein finsteres Porträt des zutiefst bigotten iranischen Patriarchats, in dem ein Psychopath, der als »Dschihadist gegen die moralische Verkommenheit« Prostituierte ermordet, für die Frömmler zur Heldenfigur wird. Ali Abbasi zeigt betont provokant und explizit, was die Zensur im Iran unterbindet: soziales Elend, Prostitution und exzessive Gewalt.
Spätestens seit September 2022, der Festnahme von Zhina Mahsa Amini wegen angeblichen Verstoßes gegen das Hidschab-Gebot, ihrem Tod infolge von Polizeigewalt und den landesweiten Protesten danach ist der mal stille, mal lautere Widerstand gegen die Repressalien der Sittenpolizei allgegenwärtig. Mohammad Rasoulof hat die Protestbewegung in »Die Saat des heiligen Feigenbaums« explizit zum Thema gemacht – ein starkes Signal. Der Film entstand unter komplizierten Bedingungen und so unauffällig wie möglich noch im Iran, während bereits Gerichtsverfahren gegen Rasoulof liefen; anschließend floh er nach Deutschland, wo er den Film fertigstellte. Das 2025 für den Oscar nominierte wuchtige Drama, das auch Original-Handyaufnahmen der Demonstrationen verwendet, erzählt mit quälender Präzision vom Zerfall einer Familie, deren Vater, strenggläubiger und pflichtbewusster Ermittler am Revolutionsgericht, mit der Sympathie seiner beiden Töchter für die Demonstrierenden konfrontiert wird. Rasoulof 2024 im epd-Film-Interview: »In meinen Begegnungen mit Menschen aus dem System – Ermittlern, Richtern, Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden – habe ich mich immer wieder gefragt: Wie denken sie? Auch der Protagonist von »Die Saat des heiligen Feigenbaums« ist ein Produkt dieser Fragen.«
Zur deutschen Produktion »Sieben Tage« (2024) unter der Regie von Ali Samadi Ahadi – bereits mit 12 Jahren aus dem Iran geflohen, um nicht als Kindersoldat im Krieg gegen den Irak eingesetzt zu werden – schrieb Rasoulof das Drehbuch und nahm die Gegenseite zu dem »Systemling« seines Vorgängerfilms in den Fokus: eine prominente Bürgerrechtlerin, gespielt von Vishka Asayesh, die während eines kurzen Hafturlaubs vor der Entscheidung steht, ob sie zu ihrer Familie nach Deutschland flüchtet oder im Iran weiter für Frauen- und Menschenrechte eintritt.
Frauen ohne Kopftuch: In ausländischen Spielfilmen über den Iran eine Selbstverständlichkeit, in iranischen Produktionen immer noch ein Wagnis, sind doch jegliche Darstellungen weiblicher Personen ohne Hidschab untersagt, absurderweise sogar allein und in Privaträumen. Doch dieses Tabu wird nun zusammen mit anderen Tabus immer häufiger gebrochen – die Sittenwächter dürften langsam den Überblick verlieren, nicht nur in den Straßen Teherans, wo längst zahllose Frauen ihr Haar offen tragen.
In der Schuld-und-Sühne-Geschichte »Ballade von der weißen Kuh« (2021) spielt Maryam Moghaddam, die gemeinsam mit ihrem Mann Behtash Sanaeeha auch Regie führte, die Witwe eines unschuldig Hingerichteten – »Es war dann wohl Allahs Wille«, sagen die Gerichtsbeamten. Sie ahnt nicht, dass der freundliche fremde Mann, der sie unterstützt und mit dem eine große Nähe entsteht, der von Gewissenbissen geplagte Richter ist, der ihren Mann verurteilte. In einer bemerkenswerten Szene dieses an viele Tabus rührenden Films steht Mina vor dem Spiegel, trägt sich in einer fast gravitätischen Geste plötzlich knallroten Lippenstift auf, und während sie aus dem Blickfeld des Spiegels und der Kamera tritt, zieht sie sich den Schleier vom Kopf. In der nächsten Einstellung steht sie mit offenem Haar vor einer Tür, hinter der wir den Mann vermuten müssen – und geht hindurch. Ein Akt der Selbstermächtigung und Befreiung, und filmisch eine virtuose Kombination aus offenem Verstoß gegen die Hidschab-Regel und subtiler Andeutung von Sex.
Auch Moghaddams und Sanaeehas folgender Film »Ein kleines Stück vom Kuchen« (2024) erzählte von einer Frau, die nicht einsieht, dass ihr Leben vorbei sein soll, weil ihr Mann verstorben ist. Die 70-jährige Mahin ergreift selbst die Initiative und lernt den Taxifahrer Faramarz kennen, woraufhin die beiden einen wunderbaren Abend verbringen, mit überraschendem Ausgang allerdings. Eine große Zärtlichkeit für seine Figuren kennzeichnet diesen leisen Film, und nonchalant bricht er kleine und größere Tabus. Dass Mahin im Park eine Patrouille der Sittenwächter davon abhält, eine junge Frau wegen einer sichtbaren gefärbten Haarsträhne abzuführen, ist nur der auffälligste Affront. »Du musst für dich einstehen. Je unterwürfiger du bist, desto mehr unterdrücken sie dich«, rät die alte Dame dem Mädchen.
Die künstlerischen Freiheiten, die sich Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam in ihren Filmen herausnahmen, hatten ihren Preis: Im April 2025 wurden die beiden zu 14 Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt, wegen »Propaganda gegen die Islamische Republik« – offiziell für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt, die Strafen können aber jederzeit vollstreckt werden.
Manchmal fällt die Befreiung weniger zärtlich denn wild aus. Junge Filmemacher*innen brechen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal Regeln und feiern den Exzess, zeigen Protagonisten, die in einer Mischung, manchmal auch im Wechsel von Rebellion, Resignation und teils auch selbstzerstörerischer Wut gegen die Konvention zu Felde ziehen. Es sind etwa gelangweilte Hedonisten der Oberschicht wie in »Chevalier Noir« von Emad Aleebrahim Dehkordi, die in westlichem Stil Partys feiern und Drogen konsumieren (ein weiteres Tabu), oder der Dealer in »Critical Zone« von Ali Ahmadzadeh, der ständig bekifft durch die Nacht zu seinen Kunden fährt und sich »wie ein Prophet« auf einer Mission für deren Seelenheil wähnt. Mit bizarrem Humor und tollkühnen visuellen Ideen – so dreht sich die Kamera etwa minutenlang mit dem Lenkrad, auf kurvenreicher Strecke – münden die Fahrten dieses skurrilen Odysseus ins orgiastische Schreien einer Kundin, die sich, nachdem die beiden Sex hatten, bedröhnt bei voller Fahrt aus dem Autofenster lehnt, die Haare im Wind wehen lässt und das nächtliche Teheran anbrüllt: »Fuck you! Fuck you! Yes, fuck you!«
So lustvoll und vehement »Critical Zone« gegen alle Konventionen verstößt – in einem Punkt knüpft Ali Ahmadzadeh nicht nur an seinen vorangegangenen Film »Atom Heart Mother« an, sondern an eine auffällige Tradition im iranischen Film seit Abbas Kiarostami: Das Auto ist zentrales Motiv, der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Zahllose Filme nutzen die Ambivalenz von Begrenztheit und Durchlässigkeit des mobilen Raums, um von den Grenzen zwischen Innen und Außen, Privatleben und Öffentlichkeit zu erzählen. Man könnte die Geschichte des jüngeren iranischen Films anhand dieses einen Motivs erzählen. Jafar Panahi, der »Taxi Teheran« ausschließlich im Auto spielen ließ, hat beispielsweise auch seinen neuen Film »Ein einfacher Unfall« als Roadmovie in und um jenen Van herum konstruiert, in dem der Automechaniker Vahid den entführten vermeintlichen Folterknecht gefangen hält.
Kann es da Zufall sein, dass in jenem Film, der von all den rebellischen neuen Werken am schönsten von Freiheit erzählt, das Auto keine Rolle spielt, stattdessen das Fahrradfahren zentrales Motiv ist? »Inside Amir« von Amir Azizi, der im vergangenen Herbst das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg eröffnete, begleitet in langen gleitenden Sequenzen den jungen Protagonisten Amir auf seinen Fahrten durch Teheran, meistens allein, manchmal mit seinen Freunden oder in Rückblenden mit seiner Freundin Tara, die nach Italien gezogen ist, wo sie jetzt auf ihn wartet. Aber wird Amir seine Heimat Iran und seine Freunde wirklich verlassen? Dieser Zwiespalt und die bittersüße Melancholie zwischen einem Hier und Jetzt, das bereits die Vergangenheitsform annimmt, und einer Zukunft, die noch gestaltlos ist, prägen den Film, während er mit der Musik von Bach und César Franck eine Brücke zu Europa schlägt. Zugleich erzählt »Inside Amir« die Liebesgeschichte zwischen Amir und Tara – die nur in Gang kam, weil die Frau den ersten Schritt getan hat. Wie lässig und liebevoll die jungen Menschen miteinander umgehen, wie die Freunde gemeinsam feiern und abhängen, auf den Rädern die Hügel außerhalb der Stadt hinunterrasen und bekifften Blödsinn reden – das scheint in einem vollkommen anderen Universum zu spielen als all die Geschichten um Druck und Zwänge, Schuld und Sühne. Was sich hier ahnen lässt, vielleicht nur als Utopie: eine offene Gesellschaft mit freien Menschen.




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