Kritik zu Sentimental Value
Das Drehbuchgespann Joachim Trier und Eskil Vogt (»Der schlimmste Mensch der Welt«) legt seinen ersten Film vor, in dessen Zentrum nicht ein Individuum, sondern eine Familie steht
Der Drachenstil setzte sich in Norwegens Architektur am Ende des 19. Jahrhunderts durch. Seinen Namen verdankte er den auskragenden Dachgiebeln der mehrstöckigen Holzhäuser, die auf einem Sockel errichtet wurden. Die Innenräume waren licht und warm. Die Villa, in der die Familie Borg seit Generationen lebt, ist ein Juwel dieses Baustils. Beinahe könnte man auf die Idee kommen, ihr Architekt habe Glück und Schmerz vorausgeahnt, die sich hier einmal zutragen würden. Die Villa ist verwinkelt, aber offenherzig. Zimmer und Treppen laden zu ausgelassenem Spiel ein. Durch den Ofen im ersten Stock lassen sich Gespräche belauschen, die im Geschoss darunter geführt werden. Sämtliche Wände erzittern, wenn Erwachsene die Türen im Streit zuschlagen. Als sich jedoch vor Jahrzehnten eine Borg in ihrer Kammer erhängte, schwieg das Haus bekümmert.
Für »Sentimental Value« ist dieser Schauplatz so unverzichtbar, dass er eine eigene Chronistin erhält, die aus dem Off berichtet, wie die Räume mit ihren Bewohnern lebten. Wenn es leer und still war, fühlte sich das Haus leicht, wenn es hingegen laut und lebhaft zuging, schwer. In dieser Spannung hält Joachim Trier auch seinen Film. Er erzählt mit leichter Hand von dem, was schwer auf seinen Figuren lastet – und was sonst lautstark geschieht, setzt er leise in Szene.
Die Villa wird zu einem emotionalen Minenfeld (und bald zu einem Terrain der Spiegeleffekte), als Gustav Borg (Stellan Skarsgård) nach der Beerdigung seiner Frau plötzlich in das Leben seiner Töchter zurückkehrt. Nora (Renate Reinsve) hat ihm nie verziehen, dass er die Familie verließ; ihre jüngere Schwester Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) ist milder gestimmt. Der Vater war einmal ein berühmter Regisseur, hat aber seit 15 Jahren keinen Spielfilm mehr realisiert. Ein unerschütterlicher Egozentriker ist er nach wie vor, der den Gefühlen der anderen entrückt scheint und kein Talent dafür hat, um Verzeihung zu bitten. Vielleicht gefällt es ihm auch, ein Rätsel für seine Töchter zu bleiben. Nun buhlt er allerdings offensiv um sie. Er hat ein Drehbuch über den Selbstmord seiner Mutter mitgebracht, das er am Realschauplatz verfilmen will; Nora, eine gefeierte Bühnendarstellerin, soll die Hauptrolle spielen. Brüsk weist sie sein Angebot zurück, das insgeheim ein väterliches Liebeswerben ist. Auf einem Festival lernt Gustav den Hollywoodstar Rachel Kemp (Elle Fanning) kennen, die unbedingt mit ihm arbeiten möchte und die Rolle übernimmt, die für Nora geschrieben wurde.
Die Ausgangsidee des Drehbuchs, das Trier mit seinem unverzichtbaren Co-Autor Eskil Vogt geschrieben hat, könnte aus dem Handbuch des europäischen Autorenkinos stammen: die Heimkehr in konfliktreiche Familienverhältnisse, das Spiel mit Film-im-Film-Irritationen. Trier und Vogt packen diese Konventionen beim Schopf, sie dienen ihnen als Sprungbrett einer Erzählfreude, die das Vertraute souverän neu sortiert. Die Kunst wird in der Villa Borg zu einer Probe für das Leben, zu einem Instrument der Teilhabe. Es ist ein riesiges Zuschauerglück, zwei Charakteren bei ihrer Arbeit zuzuschauen, die ihr Metier beherrschen und einander ebenbürtig sind in ihrem Stolz.
Nora wird zwar vor jeder Premiere von energischem Lampenfieber ergriffen, aber das ist ein Ausweis ihrer Hingabe ans Spiel. Gustav wiederum versteht es, Darsteller zu führen, er besitzt diebischen Charme und noch immer Überzeugungskraft. Einfühlsam und mit lässlich manipulatorischem Geschick probt er den Text mit seinem neuen Star. Indes, sie findet nicht in die Rolle. Endlich gibt Nora seinem Werben nach. Aber auch im Prozess der Annäherung bleibt Gustav unberechenbar.
Dass »Sentimental Value« zu einer Parabel auf die Regie als Metier der Zuversicht gerät – eine Geschichte genauso zu inszenieren, wie man es vorhat, um dann die ersehnten Worte zu hören und Regungen zum filmischen Leben zu erwecken – vollzieht sich gleichsam klammheimlich: im stillschweigenden Einvernehmen der Nuancen und Zwischentöne. Triers Virtuosität kommt leise daher, aber ihr eignet die gleiche Freude an der Schönheit der eigenen Form, die einst die Architekten der Villa Borg umtrieb.





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