Kritik zu Lolita lesen in Teheran
Eran Riklis hat die Autobiografie der ehemaligen iranischen Lehrerin Azar Nafisi verfilmt, die nach der islamischen Revolution mit einem Zirkel von Studentinnen in Teheran heimlich Weltliteratur besprochen hat
Nach dem Sturz des Schah-Regimes kehrt Azar Nafisi nach Teheran zurück. Wie viele heimgekehrte Exiliranerinnen muss auch sie bald feststellen, dass ihre Hoffnung auf einen Neubeginn vom Terror der Revolutionswächter erstickt wird. Mit diesem Blick zurück auf die Phase zwischen 1980 und 1995 adaptierte der israelische Regisseur Eran Riklis (»Lemon Tree«) die gleichnamige Vorlage von Azar Nafisi, eine Autobiografie, die von der London Times 2009 in die »Liste der 100 besten Bücher des Jahrzehnts« aufgenommen wurde.
Der Titel »Lolita lesen in Teheran« mag skurril klingen, doch er berührt eine nicht gerne zur Kenntnis genommene Binsenweisheit. So kann die Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi nach Erteilung eines Lehrverbots an der Universität Teheran – wegen Verweigerung des Hijabs – nur noch heimlich unterrichten. In einem klandestinen Zirkel diskutiert sie Nabokovs Skandalroman »Lolita« aus dem Jahr 1955. In den Augen der Revolutionswächter, deren Argumentation der Film zu Beginn präzise seziert, ist diese Schilderung der sexuellen Beziehung eines Erwachsenen zu einer 12-Jährigen ein rotes Tuch. Azar Nafisi spießt einen anderen Aspekt dieses Buches auf. Jene pädophilen Fantasien, die »Lolita« ausbuchstabiert, werden nämlich nicht nur von Männern aus der dekadenten westlichen Hemisphäre entwickelt. Da auch im Iran nach der islamischen Revolution die Anzahl der Kinderehen anstieg, spricht eine der Studentinnen den Schlüsselsatz aus: »Sind wir alle Lolitas?«
Dieser Befund benennt nur die oberste Ebene des radikalislamischen Umbaus der iranischen Kultur. Der Film zeichnet pointierte Porträts von Nafisis Studentinnen, in denen die ganze Bandbreite von Frauenschicksalen durchdekliniert wird. Von der Gewalt in der Ehe über die resignierende Flucht ins Ausland bis hin zum Geständnis der Unzüchtigkeit, unter der Folter erpresst. Grausame Schockbilder zeigt der Film nicht. Wie es verhafteten Studentinnen in den Gefängnissen ergeht, kann man sich dennoch lebhaft vorstellen: »Sie haben darauf geachtet, uns nicht zu berühren. Aber Vergewaltigung war kein Problem.« Aufrechte Männer? Gibt es in diesem Film eigentlich nicht. Enttäuscht ist die Literaturdozentin sogar von ihrem Mentor, der sich wie viele Intellektuelle ins innere Exil zurückgezogen hat. Selbst ihr verständnisvoll anmutender Ehemann kann sich nicht so recht vorstellen, dass Frauen die allgegenwärtige Kontrolle durch die Sittenpolizei wie eine seelische Auslöschung erleben.
Das in Italien gedrehte Biopic will die Vielstimmigkeit der Vorlage auf der Leinwand sichtbar machen. Obwohl Golshifteh Farahani, bekannt aus dem kurdischen Western »My Sweet Pepper Land«, an der Seite weiterer exiliranischer Darstellerinnen überzeugt, vermisst man in diesem mosaikartigen Sittenbild die klare Linie. Viele der atmosphärisch gefilmten Beobachtungen sind erschütternd. In Ermangelung eines dramatischen Bogens versandet der Film jedoch zuweilen.



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