Netflix: »Steve«
»Du stehst ganz oben auf meiner Liste«, lautet das Mantra, das der durch die Flure des Heims eilende Steve Jugendlichen und Pädagogen, die etwas von ihm wollen, entgegnet. Natürlich kann der Leiter des reformpädagogischen Erziehungsheims Stanton Wood das inhärente Versprechen, sich um die Bittsteller zu kümmern, nicht einlösen, weil es ständig irgendwo anders brennt. Für die eigentlich wichtigen Dinge, die einfühlsame Betreuung der Jugendlichen, hat Steve nie genug Zeit. Auch in der Inszenierung werden die Nöte seiner Schutzbefohlenen zu kurz abgehandelt. Die Literaturvorlage dieses Netflix-Dramas, der Roman »Shy«, handelte vom aufgewühlten Innenleben eines 16-jährigen Delinquenten, für den das Heim die letzte Chance auf einen Schulabschluss darstellt. Der Autor selbst, Max Porter, hat als Drehbuchautor den Fokus von dem suizidgefährdeten Shy auf Heimleiter Steve verlegt.
Mitproduzent und Hauptdarsteller Cillian Murphy verkörpert eindrucksvoll – und durchaus mit angedeuteter Märtyrerpose – einen Lehrer, der nur das Beste will, aber vor den prekären Umständen und im Griff eigener Süchte und Traumata vor dem Burn-out steht. Die im Jahr 1996 angesiedelte Handlung ist verdichtet auf 24 Stunden, in denen sich ein Unglück zusammenbraut, das über den normalen Alltagswahnsinn hinausgeht. An jenem Tag wuselt ein TV-Team durch das politisch umstrittene Heim. Eine Film-im-Film-Ebene, in der Lehrer und Schüler für die TV-Sendung direkt in die Kamera sprechen, erweist sich als kommoder Drehbuchkniff, um die Hauptfiguren in Kurzporträts vorzustellen. Jenseits des übergriffigen Kamerateams versuchen die Lehrer, mit freundlicher Ansprache die Jungs im Unterricht, beim Mittagessen, Psychologentermin und Fußball zu befrieden. Doch diese zeigen sich an jenem Tag von ihrer schlechtesten Seite und ticken permanent aus. Zwei Hiobsbotschaften steigern den Stress: Ein Stiftungsbeirat verkündet den baldigen Verkauf des ländlichen Anwesens und damit das Aus des Heims; Shy erhält einen Anruf, der ihn vollständig aus der Bahn wirft. Und Steve – das ist die interessanteste Volte – neigt selbst zu aggressiven Ausbrüchen. Kollegen behandeln ihn wie ein rohes Ei, die Schulpsychologin (Emily Watson) versucht vergeblich, zu ihm durchzudringen.
Filme über Erziehungsheime sind ein Subgenre, wie etwa der kürzlich angelaufene deutsche Dokumentarfilm »Im Prinzip Familie« beweist, in dem mit viel Sensibilität die Interaktion zwischen engagierten Pädagogen und gefährdeten Kindern beleuchtet wird. In vorliegendem Drama dagegen, mit wackliger, überaktiver Handkamera im Stil des Cinéma vérité gedreht, beschallt von Death-Metal-Musik und getaktet von impulsiver Randale, wirken Tempo und Action gelegentlich wie Selbstzweck. Wo die Botschaft – Zuwendung, Verständnis, Hoffnung und mehr Geld für die Erziehung straffälliger Jungs – eindringlich klar gemacht wird, sorgt die Machart andererseits dafür, dass dieses mit Brio inszenierte Chaos auch für den Zuschauer schwer aushaltbar ist.





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