Kritik zu Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

© DCM

2020
Original-Titel: 
The Reason I Jump
Filmstart in Deutschland: 
31.03.2022
V: 
L: 
82 Min
FSK: 
6

Inspiriert von »The Reason I Jump«, dem Buch des 13-jährigen Autisten Naoki Higashida, stellt Jerry Rothwell fünf nonverbale Autisten vor

Bewertung: 4
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»Ihr denkt, ich will allein sein, für mich, in meiner Welt«, schreibt Naoki Higa­shida, »doch das ist falsch. Keiner, der als Mensch geboren wird, will allein sein.« Es gab schon viele Versuche zu erklären, was Autismus ist, von innen und von außen, aber keines dieser Bücher ist so erstaunlich in seinen Erkenntnissen, so poetisch in seiner Sprache und so treffend in seiner Botschaft. David Mitchell, Autor von »Cloud Atlas« und anderen postmodernen Romanen, hat bei der Lektüre zum ersten Mal wirklich verstanden, was in seinem autistischen Sohn vorgeht. Und Mitchells Entschluss, das Buch von Naoki Higashida gemeinsam mit seiner japanischen Frau Keiko Yoshida ins Englische zu übersetzen, trug nicht unwesentlich zu dessen triumphalem Erfolg bei. Warum aus dem wunderbar rätselhaften Titel »The Reason I Jump« im Deutschen ein etwas belehrendes »Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann« geworden ist, bleibt unklar. Das Dilemma des hochbegabten, damals 13-jährigen Japaners Naoki Higashida aber erklärt Mitchell im Film. Alle die das Buch lesen, zweifeln entweder daran, dass es von einem 13-jährigen Jungen, der nicht sprechen kann, geschrieben wurde, oder daran, dass er ein Autist ist. 

Lange lebte Naoki in einer stummen Welt. Er bildete Worte in seinem Kopf, die, wie er sagt, verschwanden in dem Moment, als er sie aussprechen wollte. Erst mit Hilfe einer Alphabettafel lernte er zu kommunizieren und schrieb schon früh Gedichte und Kurzgeschichten. Inzwischen ist das Buch in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Der britische Filmemacher Jerry Rothwell nimmt uns deshalb mit, einmal rund um den Globus, zu fünf nonverbalen Autisten in Indien, Großbritannien, Sierra Leone und den USA. Der inzwischen dreißigjährige Naoki aber kommt in dem Film selbst nicht vor. Stattdessen zeigt Rothwell, wie man mit Naokis Buch lernen kann, nonverbale Autisten zu verstehen. Zu sehen, dass akustische oder visuelle Reize bei ihnen nicht linear ankommen, sondern wie Tropfen im Wasser, dass Erinnerungen nicht einzeln aufscheinen, sondern alle gleichzeitig, und dass eine Reizüberflutung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Und wenn er springt, auf dem Trampolin, dann entsteht eine Ordnung, in der er sich wohlfühlen kann. 

Die vielen Sätze, die Rothwell aus dem Buch zitiert, sind in ihrer poetischen Kraft ungeheuer beeindruckend. Ein junger Mensch, der seine Lebenssituation so klar durchschaut, ist selten; dass er als vermeintlich Sprachloser derart hellsichtig darüber schreiben kann, ist ein Einzelfall. Der Film geht über den simplen Ratgeber für Betroffene hinaus, findet beeindruckende Bilder für einen Zustand, der schwer in Worte zu fassen ist. Indem er diese Bilder ernst nimmt und ins Universelle wendet, gibt Rothwell den oft missachteten Menschen ihre Würde zurück. Und dann stellt er mit seinem Film auch unsere wohleingerichtete Normalität infrage. Wenn ich mich entscheiden könnte, schreibt Naoki, würde ich mich für den Autismus entscheiden. Das ist für mich normal. Eure Normalität kann ich gar nicht verstehen.

Meinung zum Thema

Kommentare

zwar kann ich immer noch nicht wirklich sagen wie es mir gerade "geht" , aber meine Freude an den Dingen im Leben teile ich mit, offensichtlich, auch wenn nur ich den Anlass sehe.

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