Kritik zu Murer – Anatomie eines Prozesses

© Der Filmverleih

2018
Original-Titel: 
Murer – Anatomie eines Prozesses
Filmstart in Deutschland: 
22.11.2018
L: 
137 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Christian Frosch verfilmt, wie 1963 in Österreich dem »Schlächter von Vilnius«, Franz Murer, der Prozess gemacht wurde. Murer hatte zuvor jahrelang als Landwirt und ÖVP-Abgeordneter auf freiem Fuß gelebt

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Die Gattin des steirischen Lokalpolitikers und Großbauern Franz Murer ist entsetzt. Sie hatte ihrem Mann für den großen Prozess extra den guten schwarzen Anzug ins Gefängnis mitgebracht. Doch sein Verteidiger, der Rechtsanwalt Böck, besteht darauf, dass er stattdessen einen alten, schon etwas abgewetzten Janker trägt. Der äußere Schein ist in dem akribisch inszenierten Drama, dem ein Strafprozess seinem Wesen nach gleicht, von entscheidender Bedeutung. Der lange getragene Janker soll den Geschworenen den Eindruck vermitteln, dass der wegen Kriegsverbrechen angeklagte Franz Murer einer von ihnen ist, ein einfacher, eng mit dem Land und seinen Werten verbundener Mann.

Der Titel von Christian Froschs Rekonstruktion des wohl größten und doch in Vergessenheit geratenen Kriegsverbrecherprozesses in der österreichischen Nachkriegsgeschichte weckt nicht zufällig Erinnerungen an Otto Premingers »Anatomie eines Mordes«. Wie sein in die USA emigrierter Landsmann schenkt Christian Frosch noch den kleinsten Details große Aufmerksamkeit. In ihnen offenbaren sich die Wahrheiten, die der Prozess in Graz im Sommer 1963 eigentlich für immer verbergen sollte.

1948 war Franz Murer, der als Mitglied des Reichskommissariats Ostland von 1941 bis 1943 für das jüdische Ghetto in Vilnius verantwortlich war, in Litauen wegen seiner Kriegsverbrechen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. 1955 wurde er in seine Heimat überstellt, wo ihm erneut der Prozess gemacht werden sollte. Da einflussreiche Kräfte ihre schützenden Hände über ihn hielten, kam er allerdings umgehend frei und konnte unbehelligt in der Steiermark leben. Erst 1962 wurde er auf Drängen Simon Wiesenthals erneut verhaftet und schließlich angeklagt. Aus der ganzen Welt reisten Überlebende aus dem Ghetto von Vilnius an, um im Prozess gegen Murer auszusagen.

Immer wieder gleitet Frank Amanns ­Kamerablick langsam von einem der Prozessbeteiligten zum anderen. Mal rückt er einen der Zeugen in den Fokus, die im Zuge ihrer Aussagen die ganzen Gräuel der NS-Verbrechen noch einmal durchleben, mal fällt er auf die Zuschauer im Saal, die ihr ­Urteil längst gefällt haben. Die langen ­Brennweiten, mit denen Amann arbeitet, erzeugen ein Gefühl von physischer Nähe. Es ist, als säße man mit im Gerichtssaal. So ­entsteht aus unzähligen kleinen Beobachtungen ein großes gesellschaftliches Panorama. In den Vorgängen in und um den Gerichtssaal offenbart sich das wahre Gesicht Österreichs. Der Prozess gegen den »Schlächter von Vilnius« wird zu einem gegen ein ganzes Land, das seine Geschichte ohne Rücksicht auf die Opfer umschreibt.

»Ich habe nur meine Pflicht getan«, das ist die Entschuldigung, die immer wieder von Seiten der Täter und ihrer Helfershelfer bemüht wird. Selbst Murers Anwalt, der in seinem Schlussplädoyer gezielt antisemitische Ressentiments schürt, wird sich am Ende hinter dieser Phrase verstecken. Nur entschuldigt sie nichts. Sie klagt den, der zu ihr greift, vielmehr an.

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