Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns
Wie in »Morgen ist auch noch ein Tag« geht es um eine weibliche Emanzipationsgeschichte vor dem gleichen historischen Hintergrund, doch das Regieduo Daniela Porto/Cristiano Bortone setzt eigene Akzente
Der Spielraum, in dem Männer und Frauen miteinander umgehen können, ist überaus begrenzt. Das Leben gehorcht sittenstreng Gesetzen in der kalabrischen Kleinstadt kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Also steckt Lorenzo (Marco Leonardi, der einst den jugendlichen Toto in Cinema Paradiso spielte) der jungen Marta (Ludovica Martino) verstohlen Bücher zu. Der Assistent des Priesters hat ein Auge auf die alleinerziehende Mutter geworfen, wenngleich aus Gründen, die keiner der anderen verstehen würde: Er erkennt in ihr einen freien Geist.
Anfangs fühlt sie sich von ihm belästigt, aber er hat gesehen, wie sie lächelt, wenn sie liest. Marta begreift, dass man in dieser intoleranten Welt einen Verbündeten braucht. Dass sie in der Nacht vor seiner Einberufung von ihrem Geliebten schwanger wurde, werden ihr die Eltern nie verzeihen; die einzige Chance, ihre Ehre wiederherzustellen, besteht in der Heirat mit einem verwitweten Bauern. Lorenzo ist ein Ausgestoßener wie sie, denn er macht kein Geheimnis aus seiner Homosexualität. Da er hingebungsvoll das Amt des örtlichen Hochzeitsplaners ausübt, kommen die zwei sich näher – für einen zart irritierenden Augenblick auch körperlich. Dieser Film bringt die Nuancen sacht zum Vibrieren.
Heimlich führt ihr Mentor sie in seine Kreise ein, eine urbane Gegenwelt, in der lebhaft von Freiheit und Aufbruch geträumt wird. Eine kluge Freundin Lorenzos entdeckt Martas Talent fürs Schreiben und unterrichtet sie im Büro der Kommunistischen Partei. Die Schreibmaschine muss sie vor den Eltern verbergen. Daheim ist es schon ein Frevel, wenn eine Frau ihren eigenen Willen hat. Als der anfangs bescheiden auftretende Bräutigam erfährt, dass sie eine Arbeit ergreifen will, entpuppt er sich als handgreiflicher Grobian.
Christiano Bortone und Daniela Porto erzählen den steinigen Weg zu Martas Selbstbestimmung in kleinen, geduldigen Schritten. Sie wirkt vorerst passiv, Ludovica Martino legt ihre Entwicklung als eine Strecke der aufmerksamen Latenz an. Umso erstaunlicher, was sie und Lorenzo sich bald herausnehmen in diesem bigotten Klima. »Lass uns einen Skandal anzetteln in dieser langweiligen Stadt!«, fordert er sie auf. Ihre vergnügte Travestie beim Karneval entlarvt nachhaltig die Heuchelei der Provinzgesellschaft. Nicht nur für Marta, die sich insgeheim auf einen Schreibwettbewerb in Mailand vorbereitet, drängt die Zeit. Auch Italien muss sich für eine andere Zukunft entscheiden bei der epochalen Wahl von 1946, zu der erstmals Frauen zugelassen sind. Martas Vater wird selbstverständlich für die Monarchisten stimmen. Seine Tochter provoziert einen doppelten Eklat, weil sie nicht nur ihre Stimme abgeben will, sondern obendrein noch für die Kommunisten.
Nun gibt es kein Zurück mehr für Marta und ihren gewitzten Sohn. Ihr hat sich ein Reich der Zweifel und der Ungewissheit eröffnet. »Mein Platz ist hier« sind nicht ihre Worte, sondern Lorenzos Bekenntnis zum Standhalten. Darin liegt die bezaubernde Originalität dieses Films, der nie vergisst, dass er die Geschichte zweier Hauptfiguren erzählt.