Sommerberlinale [4]

»Courage«(2021). © Living Pictures Production

Der Film des Tages ist heute sicherlich »Courage« von Aliaksei Paluyan, der vom Kampf dreier Theaterleute gegen den belarussischen Autokraten Lukaschenko erzählt, der ja bekanntlich kürzlich eine Linienmaschine entführen ließ um eines Oppositionellen habhaft zu werden. Dessen Geständnis nach einigen Tagen erinnerte doch fatal an die Zeit der Schauprozesse unter Stalin in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. »Courage« startet am 1. Juli in den deutschen Kinos.

Meines Wissens nach noch ohne deutschen Verleih ist »Memory Box« von Joana Hadjithomas & Khalil Joreige. Der kanadische Spielfilm greift ein Thema auf, dass sich in diesem Jahr in vielen Filmen, besonders der »Panorama«-Sektion, findet: die Aufarbeitung verdrängter Familiengeschichten. Hier ist es ein großes Paket, das eines Tages in Kanada ankommt. Als die Großmutter den Absender sieht, veranlasst sie ihre Enkeltochter, es vor der Mutter im Keller zu verbergen. Es enthält die Briefe und Tagebücher, die die Mutter ihrer nach Frankreich emigrierten Freundin aus der Heimat schickte, Bilder aus dem Alltag einer jungen Frau im kriegsgepeinigten Libanon der achtziger Jahre. Vor diesen Erinnerungen an schwere Zeiten möchte die Großmutter ihre Tochter bewahren, doch die stellt sich ihnen schließlich und wird am Ende sogar das Grab der vor einigen Monaten verstorbenen Freundin im Libanon besuchen, während ihre eigene Tochter feststellen muss, dass ihre Mutter als Teenager gegen ihre Mutter ähnlich rebellierte, wie sie es heute tut. Ein sehr berührender Film, basierend auf den Erfahrungen der Regisseurin, die ihrer besten Freundin sechs Jahre lang die Details ihres Lebens im Libanon berichtete.

Eine Familiengeschichte, in der einmal nicht die Kinder unter den Ansprüchen der Eltern leiden, erzählt Louda Ben Salah-Cazanas mit »La monde apres nous«. Hier ist es der Sohn, ein angehender Schriftsteller, der mit den eigenen Ansprüchen nicht zu Recht kommt, was sich auch auf seine neue Liebesbeziehung auswirkt.

Viele sich überkreuzende Schicksale stehen im Mittelpunkt von »It's a Sin«, der neuen Serie von Russell T. Davies, der bisher verantwortlich war für so unterschiedliche Arbeiten wie »Doctor Who«, »Years and Years« oder »Queer as Folk«. Zu Beginn brechen mehrere junge Männer anno 1981  aus der britischen bzw. irischen Provinz auf nach London, wo sie hoffen, ihre Homosexualität nicht länger verbergen zu müssen. Schließlich landen sie alle in einer Wohngemeinschaft, zu der auch eine junge Schwarze gehört, die gewissermaßen den ruhenden Pol abgibt. Ist der Tonfall anfangs eher optimistisch, so verändert sich das, als der erste, ein Arbeitskollege eines der Männer, stirbt, an AIDS. Lange ignorieren die Männer die Krankheit, aber irgendwann begreifen sie, wie gefährlich sie ist. Der Zuschauer begreift das schon vorher, wenn gezeigt wird, wie die Kranken isoliert werden und wie in den Krankenhäusern mit ihnen umgegangen wird. Gezeigt werden die ersten drei von fünf Episoden, die Serie ist ab 20. Juni bei dem Streaminganbieter Starzplay zu sehen.

Ein ungewöhnlicher Animationsfilm ist »Cryptozoo« von Dash Shaw, der vor einigen Jahren im »Generation«-Programm bereits mit einer anderen eigenwilligen Animation, »My entire highschool sinking into the sea«, vertreten war. Diesmal ist die Geschichte fantasygeschwängert, es geht um seltene Wesen, um Menschen, die sie beschützen wollen, und um das Militär, das ganz andere Ziele verfolgt. Der plot hat mich dabei nicht so sehr überzeugt, aber wegen der originellen Animation trotzdem eine Empfehlung.

Zu den bemerkenswerten deutschen Filmen der diesjährigen Berlinale zählt für mich auch die zweite Zusammenarbeit der Regisseurin Mia Maariel Meyer mit dem Schauspieler Hanno Koffler, bei der beide, wie im Vorgänger, zusammen für das Drehbuch verantwortlich zeichnen. In »Die Saat« spielt Koffler einen Baustellenleiter, der mit Frau und Tochter gerade aus der gentrifizierten Großstadt in eine Kleinstadt gezogen ist, wo die – nach Feierabend von ihm selber ausgeführten – Arbeiten am neuen Eigenheim eine zusätzliche Belastung darstellen. Der junge Firmenchef (Robert Stadlober) nutzt die schon von seinem Vater herrührende Verbundenheit mit der Firma aus und setzt ihm trotzdem eines Tages einen angeblich erfahreneren Mann vor die Nase. Der (Andreas Döhler) erweist sich als autoritärer Zeitgenosse, trotzdem bringt der Zuschauer ihm ein gewisses Verständnis entgegen, leidet er doch unter der Scheidung von seiner Frau und dem begrenzten Umgang mit seiner kleinen Tochter. Unterdessen freundet sich die Tochter des Protagonisten mit der Nachbarstochter an, doch die zieht sie aus purer Langeweile in kriminelle Aktionen hinein. Am Ende kommt es zu einer explosiven Zusammenspitzung der Konflikte zwischen den beiden Männern und den beiden Mädchen, zusammengeführt in einer Parallelmontage. Kinostart wird erst im Frühjahr 2022 sein.

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