Tanti Auguri!

Wenn ich ein Jahr wäre, würde ich nur ungern 2023 sein. In der Haut des neuen Jahres möchte ich nicht stecken: Ich hielte den Erwartungsdruck nicht aus. Nun soll sich, man liest es vielerorten, die Zukunft entscheiden. Kehrt das Publikum endlich so vollzählig in die Kinos zurück wie vor der Pandemie?

Der Jahreswechsel hat mächtigen Rückenwind mit sich gebracht. Nach drei Wochenenden sind bereits fünf Millionen Deutsche in »Avatar: The Way of Water« geströmt und haben für Feiertagsstimmung unter Kinobetreibern gesorgt. In Frankreich, wo der Kinobesuch nach wie vor die bevorzugte kulturelle Freizeitbeschäftigung ist, waren es im selben Zeitraum sogar acht Millionen. Weltweit stellt der Film ein Phänomen dar, an das sich wahrscheinlich die falschen Hoffnungen knüpfen. Natürlich könnte es sein, dass James Camerons Film als Türöffner fungiert: Er hat sehr, sehr viele Zuschauer angelockt, die sonst kaum mehr in Filmtheater gehen. Sie haben Zuschläge für 3-D und Überlänge akzeptiert, um 192 Minuten lang steigende Energiekostenrechnungen vergessen zu dürfen. Sie haben Teil an einem Ereignis, das einzigartig ist. Ob der Erfolg auch zu einer Renaissance des 3-D führen wird, erscheint mir als eine ziemlich nachrangige Diskussion. Die Branche hat existenziellere Sorgen.

2022 war das erste Kinojahr ohne Lockdown; zumindest in der westlichen Hemisphäre. Die Erosion des Zuschauerverhaltens hat es noch nicht aufgehalten. 2023 wird voraussichtlich das erste postpandemische Jahr (wobei sich die Herren Drosten und Lauterbach in diesem Punkt uneinig sind). Leichter wird es für die Kinobetreiber damit nicht, denn die ökonomischen Krisen des Vorjahres dauern an. Ihre Häuser sind enorme Energieverbraucher; je nach Größe und Alter macht dies zwischen fünf und zehn Prozent ihrer Gesamtkosten aus. Die aktuellen Verwerfungen könnten sich in den Eintrittspreisen niederschlagen. Allerdings gibt es Spielräume. Wer beispielsweise rechtzeitig auf Laserprojektion umrüstet, halbiert seinen Stromverbrauch.

Die Hoffnungsträger aus Hollywood gehören 2023 fast ausschlielich Franchises an, »Mission:Impossible«, »Dune«, »Spider Man«, »Transformers«, »Indiana Jones«, »Fast and Furious« etc. Die Marvel-Schmiede hat gewiss auch zugkräftige Titel in petto. Und womöglich wird die angedrohte Fortsetzung des Manta-Films mit Til Schweiger auch einiges reißen. Denn zwei der überragenden Hits des letzten Jahres bewiesen, dass Kinogänger ein langes Gedächtnis haben können: »Top Gun: Maverick« (über 3, 7 Millionen Zuschauer) kam fast vier Jahrzehnte nach dem Original heraus und auf »The Way of Water« (4,7 Millionen bis Jahresende) warteten die geduldigen Fans immerhin 13 Jahre. Mit der Dimension dieses Anschlussphänomens hatte ich übrigens nicht gerechnet. Aber auf meine seherischen Fähigkeiten ist da ohnehin kein Verlass. Erinnern Sie sich nur daran, dass ich prophezeite, »Black Adam« würde dank schlechter Mundpropganda an den Kinokassen untergehen.

Aber was sagt es aus, dass dem erfolgreichsten Film des Jahres nur zweieinhalb Wochen genügen, um diesen Status zu erringen? Es offenbart eine Schere, ein Ungleichgewicht. Die Last der Rettung ruht, wie in den Pandemiejahren, noch immer auf einigen, wenigen Schultern. Die Balance im Arthousebereich ist demgegenüber vielleicht weniger heikel. Auch hier gibt es ein zwar ein Einzelphänomen: »Triangle of Sadness« wurde erst nach geschlagenen zwölf Wochen an der Spitze der Charts abgelöst. (Wie »Parasite« vor und nach dem ersten Lockdown: ein Film, der einfach nicht verschwinden will.). Aber das Zuschauerinteresse ist in diesem Segment breiter gestreut. Auch »Everything Everywhere all at once« hat sich im letzten Jahr als Longseller erwiesen; Mitte Dezember lief »Aftersun« an, der auf große Begeisterung stößt – bestimmt nicht nur in Berlin.

Für mich war 2022 jedoch ein Jahr der Unübersichtlichkeit. Die Verdrängungsmechanismen waren mächtig. »Il Buco – Ein Höhlengleichnis« beispielsweise war nach nur zwei Wochen praktisch aus den Berliner Kinos verschwunden. Ich habe ihn leider verpasst. Gut möglich, dass ich ihn in die Top Five, die wir epd Film-Autoren für das Januarheft nennen sollten, aufgenommen hätte. Wird 2023 alles besser? Hängt das Überleben des Kinos wirklich von diesem Jahr ab? Ich plädiere für Geduld – vor allem, wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass der erfolgreichste Film 2023 auch der erfolgreichste des Vorjahres sein sollte.

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