Die Witterung als Bündnispartner

Nikita Michalkow auf dem 45. Internationalen Filmfestival in Karlsbad

Vor einigen Tagen stieß ich im Londoner "Guardian" auf einen Artikel, der meine Sicht der Welt wenn nicht erschütterte, so doch zumindest korrigierte. Ich hatte mich schon seit längerem damit abgefunden, dass aus dem einst bemerkenswerten Filmemacher Nikita Michalkow ein finsterer Apparatschik geworden ist. Bis dahin stand ich in dem Glauben, es genügte ihm, das russische Filmwesen in seinem festen, neo-zaristischen Klammergriff zu halten.

Ich hatte seine Ambitionen unterschätzt, Zusammen mit seinem Bruder Andrej Konchalowski (der möglicherweise immer noch ein bemerkenswerter Filmemacher ist, was sich aber nur schwer überprüfen lässt, da seine jüngeren Arbeiten hier zu Lande nicht mehr ins Kino kommen) hat er nun vom Kreml einen Kredit in Höhe von einer Milliarde Rubel erhalten, um ins Restaurantgeschäft einzusteigen. Das Geld, das innerhalb von fünf Jahren zurückerstattet werden muss, soll in den Aufbau einer Kette von Schnellrestaurants fließen, die sich "Yedim Doma!" (Iss zu Hause!) nennt und ihren Kunden fertige Mahlzeiten anbietet, die daheim aufgewärmt werden können. Mit der ursprünglichen Leidenschaft der Brüder hat diese Geschäftsidee auf den ersten Blick wenig zu tun. Es ist natürlich denkbar, dass ihr Franchise mit Rabatten für Streaming-Dienste verknüpft ist und dem Zuschauer einen zweifachen Genuss verspricht: Mit jeder Mahlzeit aus dem Hause Michalkow-Kontschalowski könnte auch ein Film aus gleichem Hause konsumiert werden.

Man wird sehen, ob sich das rechnet. Solange sein Freund Putin im Kreml sitzt, muss sich Michalkow keine Sorgen machen, dass der Kredit zurückgefordert wird. Bereits in der Zeit, als es ihm noch genügte, ein finsterer Apparatschik zu sein, war seinen Plänen eine so enorme wie mulmige Durchschlagskraft beschieden. Zu den Opfern, die dabei seinen Weg pflasterten, gehört ein großartiger Filmemacher, der 1935 in Tiflis geboren wurde und ein gut gehütetes Geheimnis ist: Marlen Chuzijew. Schon vor Michalkow hatte er mächtige Feinde. Von Kollegen und Kritikern wird er hochgeschätzt; auch wegen seiner einflussreichen Lehrtätigkeit an der staatlichen Filmschule VGIK. Einer seiner Schüler war Abderrahmane Sissako, dessen Timbuktu bei der diesjährigen "César"- Verleihung triumphierte. Als ihn der russische Filmverband 2008 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten wählte, ließ Michalkow seine Beziehungen spielen und drängte darauf, die Wahl für ungültig zu erzählen.

Ab morgen, dem 24.4., kann man Chuzijews Werk auf dem Festival goEast in Wiesbaden entdecken, das ihm eine Hommage widmet. Vom 1. bis zum 7. Mai läuft sie auch im Berliner Kino Arsenal. Er selbst wird zu den Vorführungen erwartet. Mit dem Arsenal und seinen Gründern Erika und Ulrich Gregor verbindet ihn eine lange Geschichte. Die beiden Filmhistoriker erzählen gern, wie sie Anfang der 1960er in die Sowjetunion reisten, um sich einen Eindruck von der aktuellen Produktion zu verschaffen. Die staatliche Filmkommission öffnete ihnen viele Türen.

Eines Tages begingen die Besucher aus dem Westen jedoch einen Fauxpas. Sie erkundigten sich nach einem Film, über den sie schon viel gehört hatten, der aber nirgends zu sehen war: Zastava Il’Ica von Chuzijew. "Wir haben Sie in unser Wohnzimmer eingeladen", erwiderte ein Vertreter der Filmkommission entrüstet, "aber Sie besitzen die Unverschämtheit, auch noch Zutritt in unser Schlafzimmer zu verlangen!" Die arglose Frage hatte an ein Tabu gerührt.

In Chuzijews Film (der Originaltitel benennt das Viertel, in dem die Hauptfiguren leben und lässt sich als "Das Iljitch-Tor" oder "Der Lenindistrikt" übersetzen) fand das Lebensgefühl der jungen Generation seinen furiosesten Ausdruck. Die Figuren spüren eine tiefe Diskrepanz zwischen ihren Träumen und dem Alltag. Sie stellen Fragen nach dem Sinn ihrer Existenz, auf welche die Generation der Väter keine Antwort weiß. Der Film reflektiert einen neuen Ton, einen ungekannt freizügigeren Umgang miteinander, eine offenere Diskussionskultur. Die legendäre Partyszene, in der Regisseure wie Andrej Tarkowski und andere namhafte Künstler auftreten, zeigt eine Art von intellektueller Geselligkeit, die dem Regime verdächtig sein musste. Nikita Chrutschow irritierte der Film so sehr, dass er ihn im März 1963 verbieten ließ: "Die Gesellschaft kann sich nicht auf solche Menschen stützen, die keine Kämpfer oder Neuerer, sondern moralisch ungefestigt und bereits in ihrer Jugend so gealtert sind, dass sie sich den höheren Aufgaben des Lebens nicht stellen können", wetterte er. Ein Film, der Staatsoberhäupter zu Filmkritikern werden lässt, muss schon viel richtig gemacht haben.

Erst 1965 kam er in einer verstümmelten Fassung unter dem Titel Ich war 20 Jahre alt neu heraus und gewann in Venedig den "Goldenen Löwen". Für Chuzijews Karriere kam diese Anerkennung fast zu spät. Er konnte nur sechs Kinofilme in ebenso vielen Jahrzehnten realisieren. Er hat sie gedreht, als habe er geahnt, dass er haushalten müsse bei seiner Chronik der russischen Nachkriegsgeschichte: Jeder von ihnen ist einer eigenen Generation gewidmet.

Eine Regiekarriere wie die seine wäre ohne die nach Stalins Tod einsetzende Tauwetterperiode nicht denkbar. In einem Zeitfenster von kaum mehr als einem Jahrzehnt konnte sich eine junge Generation von Filmemachern etablieren, die sich das Privileg des Zweifels herausnahm. Sein Spielfilmdebüt Frühling in der Saretschnajatraße kündete 1956 munter von dem frischen Wind, der durchs sowjetische Kino gehen sollte. Er hatte die Lehren des italienischen Neorealismus gelernt, aber eine ganz eigene Kunst entwickelt, den Alltag in Poesie zu verwandeln. Chuzijew wurde ein Zeitgenosse der Aufbruchsbewegungen, die Anfang der 60er Jahre weltweit stattfanden. Auch wenn ihm der Austausch mit westlichen Kollegen und die Kenntnis ihrer Arbeit weitgehend verwehrt blieben, hatte er Teil an der erzählerischen Ungebundenheit, die sich im Weltkino Bahn brach. In Juliregen (von 1966: fast schon der Schwanengesang der Tauwetterperiode) zeigt er, dass man von Entfremdung erzählen kann, ohne die Filme Michelangelo Antonionis zu kennen. Das letzte Gespräch des Paares vor ihrer Trennung, bei dem Fensterrahmen eine Grenze zwischen ihnen ziehen, ist ein Glanzstück der psychologischen Rauminszenierung.

Mit ihm ist ein Meister des atmosphärischen Erzählens zu entdecken. Der Einsatz der Musik ist von lyrischer Subversion: Er privatisiert sie gleichsam, lässt regelmäßig zu Gitarrenbegleitung Balladen singen und wendet sich später ungeniert westlichen Klängen zu; Hymnen und staatstragende Märsche zitiert er allenfalls ironisch. Er versteht es, die Witterung zum Bündnispartner seiner Inszenierung zu machen (nicht von ungefähr spielen viele Filmtitel auf Jahreszeiten an) - unvergleichlich, wie das Licht bei ihm von regennassen Straßen reflektiert wird. Überhaupt die Straßenszenen: Sie verraten eine unbändige Schaulust, Passanten zu betrachten. Zu Beginn seiner Filme nimmt er sich regelmäßig Zeit, aus der Masse der Menschen eine Figur herauszusuchen, die sodann sein Protagonist werden wird. Er bürdet ihnen nie die Last auf, Vorbilder zu sein, er begreift sie als Individuen. Seine raumgreifenden Kamerafahrten, in denen sich Eleganz und Spontaneität mischen, bindet sie in ihr Ambiente ein und verschafft ihnen zugleich eine Bewegungsfreiheit, die politisch anstößig war. Trotz aller Zurücksetzungen, die er in seiner Karriere erfuhr, scheint er ein Optimist geblieben zu sein. Man schaue nur in die Gesichter der Kinder, mit denen Juliregen und Es war im Mai enden: Sie sind voll banger Zuversicht.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt