À l'écoute

»Zärtlichkeit« (2013). © Salzgeber

Die Stille, erklärt er mir, gehört zu den größten Herausforderungen in seinem Metier: Denn in ihr hört man jedes Geräusch, jeder Ton wird absichtsvoll und gewichtig. Der Anfang von »Zärtlichkeit«, dem gerade angelaufenen, neuen Film von Marion Hänsel, ist ein wunderbares Beispiel hierfür. Da sieht man in der Totalen zwei Skifahrer einen Abhang in den französischen Alpen hinuntergleiten und glaubt, nur Stille zu hören. Das besitzt seine atmosphärische Triftigkeit: Schnee dämpft alle Geräusche. »Ich finde diesen Anfang sehr graphisch«, erläutert Bruno Tarrière die Herangehensweise an diese Sequenz, »es galt, die unbefleckte Reinheit, die das Weiß besitzt, auch im Ton zu erhalten. Und Marion Hänsel hat keine Angst vor Stille.« Nur sacht ist das ferne Geräusch des Windes zu hören.

Vor einem Jahr hatte ich das Glück, ihn bei der Eröffnung einer Ausstellung über Musik und Film kennenzulernen, die ein gemeinsamer Freund kuratierte (und über die ich in der Maiausgabe von epd Film 2013 geschrieben habe). Bruno ist einer der renommiertesten und meistbeschäftigten Toningenieure Frankreichs – die Imdb listet mehr als 150 Filme auf, an denen er beteiligt war. Bei unserer ersten Begegnung – ich musste etwas improvisieren – sprachen wir vor allem über zwei Filme, von denen mir seine Arbeit im Gedächtnis geblieben war: »Reise zur Sonne« von Yesim Ustaoglu und »Le Passé – das Vergangene« von Asghar Farhadi. Am Morgen danach warf ich einen Blick auf seine Filmographie und stellte fest, dass er mit so unterschiedlichen Filmemachern wie Luc Besson, Emir Kusturica, Walter Salles, Oliver Stone und André Téchiné gearbeitet hat. Wir blieben in Kontakt. Vor einigen Monaten traf ich ihn in seinem Tonstudio in Ivry-sur-Seine zu einem längeren Interview (seine erste Antwort dauerte 40 Minuten), das in der aktuellen Ausgabe der Schweizer Zeitschrift »filmbulletin« erscheinen müsste. Obwohl mich die epd-Redaktion für diesen Hinweis auf die Konkurrenz gewiss verteufeln wird, lege ihn Ihnen die Lektüre dennoch nahe, da Bruno dort sehr ausführlich und systematisch die verschiedenen Facetten seines Berufes sowie die Arbeitsschritte von der Aufnahme des Direkttons bis zur endgültigen Tonmischung schildert. Unsere Begegnungen sind für mich zu einer Schule des Hörens geworden: Seither nehme ich Klangfarben, Raumwirkung, das Zusammenspiel von Dialog, Geräuschen und Musik anders wahr. 

Den Leser an dieser Erfahrung teilhaben zu lassen, ist ein köstliches Dilemma für einen Kritiker: Einerseits soll man die Illusionsmaschinerie des Kinos nicht entzaubern, aber andererseits ist es reizvoll, den Zuschauer einzuweihen in die Techniken, deren sie sich bedient. Auch die Tonspur eines auf den ersten Blick unauffälligen und sich bescheiden gebenden Films wie »Zärtlichkeit« birgt immense Reichtümer. Deshalb verabredete ich mich mit Bruno in dieser Woche zu einem Telefoninterview über diesen Film, der seine vierte Zusammenarbeit mit der Regisseurin ist. Die Parameter der Arbeit wurden bereits 2001 in »Wolken – Briefe an meinen Sohn« deutlich: »Marion will keine demonstrativen Effekte, sondern einen weitgehend realistischen Ton. Für sie ist es wichtig, dass die Natur, die Elemente auf der Tonspur lebendig werden. In den vorangegangenen Filmen waren es der Wüstensand, das Meer, der Wind. Diesmal gibt es einerseits die winterliche Berglandschaft und dann vor allem die Autofahrten.«

Thematisch erinnert »Zärtlichkeit« an »Le Passé«: Beide Filme erzählen von Paaren, die seit Langem getrennt sind, die Gewohnheiten des Partners jedoch noch genau kennen. »Aber anders als Asghar legt Marion viel Wert auf die Präsenz der Musik«, berichtet der Toningenieur, »man hört sie zum ersten Mal nach gut zehn Minuten, als das Paar aufbricht, um den Sohn nach seinem Skiunfall heimzuholen. Die Musik von René-Marc Bini etabliert eine Sanftheit, Wärme, die noch immer zwischen ihnen herrscht. Einverständnis und Humor sind nach wie vor möglich.« 

Durchgehend naturalistisch ist der Ton nicht. Er öffnet sich für psychologische Nuancen. »Marion hat mit Direktton gedreht, es war klar, dass keine Dialoge nachsynchronsiert werden«, sagt Bruno. »Im Kern ist der Film ja ein huis clos; er spielt hauptsächlich in zwei Autos. Unser Prinzip war der Gegensatz zwischen Kokon und Geschwindigkeit, mal müssen die Fahrgeräusche verstärkt werden, mal müssen sie verschwinden. Die Arbeit des Tonmischers besteht in der Dosierung, der An- und Abwesenheit von Geräuschen.« 
Vielleicht haben Sie ja Lust bekommen, »Zärtlichkeit« im Kino zu sehen & zu hören. Ende Mai läuft ein weiterer Film an, dessen Ton Bruno Tarrière aufgenommen und gemischt hat: »Araf« von Yesim Ustaoglu. Wir sind wieder zu einem Telefongespräch verabredet und ich würde mich freuen, wenn ich Ihre Neugierde auf die Welt der Geräusche und Stimmen geweckt habe.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt