À l'écoute 3

»Vor der Morgenröte« (2016). © X-Verleih

In den letzten zwei Jahren haben wir uns weder aus den Augen noch aus den Ohren verloren. Aber es ergab sich einfach keine Gelegenheit, wieder ausführlicher miteinander zu sprechen. Er hatte schlicht zu viel zu tun.

Im April und Mai 2014 habe ich Ihnen den Toningenieur Bruno Tarrière an dieser Stelle vorgestellt. Seither hat er an mehr als einem Dutzend Filme mitgewirkt. Zeitweilig schien es, als könnten wir unser Zwiegespräch anlässlich des Starts von »An den Ufern der heiligen Flüsse« von Pan Nalin fortsetzen. Aber dann musste er sich entschuldigen, da er kurzfristig einen neuen Auftrag erhalten hatte. Ich vermute, dabei handelte es sich um die Mischung von »Colonia Dignidad«, der ihm vor einigen Monaten eine Nominierung für den Deutschen Filmpreis einbrachte. Als ich vor einigen Wochen »Vor der Morgenröte« zum ersten Mal sah, schrieb ich ihm, wie begeistert ich von ihm sei. Er schlug vor, doch bei nächster Gelegenheit mal über beide Filme zu sprechen. Die Idee fand ich großartig, immerhin handeln beide von Deutschen in Lateinamerika und leben akustisch vom Wechselspiel aus Massenszenen und intimen, stillen Momente.

Es kam dann doch anders. Gerade hatte er eine Mail von Maria Schrader bekommen, die ihm berichtete, wie erfolgreich der Film angelaufen sei. In der zweiten Woche kamen sogar noch fünfzehn Kopien hinzu. »Ein Film, den keiner machen wollte,« schrieb sie ihm, »verwandelt sich nun in einen Sommerhit.« Das nahm meiner Vermutung, Stefan Zweig sei heute in Frankreich populärer als in Deutschland ein wenig den Wind aus den Segeln. Sie hatte Bruno ohnehin verblüfft. Allerdings hatte er ihn in seiner Jugend viel gelesen und stellte nun gerade fest, dass seine Tochter Aurore und ihre Freundinnen ihn neu entdeckten. Maria Schraders Film hatte ihn nachhaltig beeindruckt. Das Prinzip, die Sequenzen in Realzeit (eine Ellipse gibt es streng genommen nur auf der Fahrt zum Empfang des Bürgermeisters eines Provinzortes in Brasilien) zu filmen, fand er erstaunlich umgesetzt. Aber als Erstes wollte er von mir mehr über die Darsteller wissen. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich ihn dazu brachte, über seine eigene Arbeit zu sprechen.

»Ich habe selten bei einem Film so intensiv an den Stimmen gearbeitet,« stellte er fest. »Kompliziert wurde es vor allem durch die enorme Anzahl der Sprechenden: Es ist ja ein choraler, auch ein vielsprachiger Film.« Das zeigt sich bereits im Prolog des Films, der nicht nur visuell von bestechender Klarheit ist; Sie ist wie ein leeres Blatt, das beschrieben werden muss. Die Plansequenz beginnt still, allmählich dringt die Musik aus dem Nebenraum in den Bankettsaal, in dem zunächst die Kellner leise ihre Arbeit verrichten. Dann füllt er sich mehr und mehr mit dem Stimmengewirr der hereinkommenden Gäste. Fortan wurde die Tonmischung für Bruno vor allem eine Frage der Dosierung, wie er am Beispiel der folgenden Pressekonferenz und dem anschließenden Schriftstellerkongress ausführte. Bei der Pressekonferenz legte Maria Schrader großen Wert darauf, dass neben den Fragen und Antworten auch die Übersetzung der Dolmetscherinnen im Hintergrund hörbar blieben: als »eine kleine, leise Musik« so Bruno, bei der einige zentrale Begriffe hervorstechen.

Es ginge insgesamt darum, meinte ich, akustische Ebenen übereinander zu schichten. »Bei einem so wortreichen Stoff sollte auch die Stille eine zentrale Rolle spielen,« wandte Bruno ein, »man muss kleine Hohlräume schaffen, sonst wird es monoton.« In der Toilettenszene jedoch, die zum Kongress überleitet, sollte das Geräusch der Menschenmenge draußen im Off präsent bleiben. Beim Kongress selbst ging es einerseits darum, dass die mit einem Krawattenmikrofon aufgenommenen Stimmen der Protagonisten, etwa die Rede des deutschen Delegierten, von der Geräuschkulisse umfangen werden: »In den Totalen musste es zugleich auch stets eine Art akustischen Zoom geben, der die Stimmen heraushebt und so den Blick des Zuschauers lenkt. Das ist für den Rhythmus der Sequenz ungemein wichtig.«

Der Tonschnitt gefiel ihm besonders beim Wechsel zur nächsten Sequenz, die auf einer Zuckerrohrplantage spielt. »Das wirkt, nach dem leisen Übergang, den die Zeittafeln vor jedem neuen Kapitel schaffen, sehr brüsk,« erläuterte er, »Nach der Welt der Stimmen kommen wir nun in die Natur. Auch sie liefert einen reichen Hintergrund. Das ist wie eine plötzliche Sauerstoffzufuhr für den Zuschauer.« Die Sequenz wird durch das Geräusch der Machete rhythmisiert, mit der Zweigs Führer Zuckerrohr schlägt und die Frucht einmal Zweigs Frau zum Kosten gibt. »In dieser Sequenz spürt man auch Zweigs Gabe, sich zu isolieren, sich in eine Blase einzuschließen,« ergänzte Bruno. »In dieser Isolation liegt in diesem Moment noch ein Element der Freude, der Kontemplation.«

Die Tondramaturgie ist weitgehend realistisch (im Gegensatz etwa zu einem Genrefilm wie »Colonia Dignidad«), was auch dem spärlichen Einsatz der Musik geschuldet ist: »Ich finde, die Emotionen werden im Film sehr diskret, sehr elegant hergestellt. Niemals wird der Zuschauer durch die Musik manipuliert. Sie ist Teil des Ambientes. Wir haben sie letztlich wie ein normales Hintergrundgeräusch gemischt.« Die Szene, in der eine brasilianische Kapelle beim Bürgermeisterempfang den »Donauwalzer« scheppernd falsch spielt, fand er nicht nur amüsant. »Natürlich steckt in diesem Kulturschock große Komik,« meinte er, »Das ist ungelenk, denn diese Musiker sind es sonst nur gewohnt, Samba zu spielen. Trotzdem fand ich die Szene sehr delikat.« Ob ich auf Zweigs Reaktion geachtet hätte, seine verschämte Rührung, fragte er mich. Das hatte ich, aber nicht aufmerksam genug. Die Träne, die ihm beim Zuhören die Wange herunterrinnt, war mir nicht aufgefallen. So lehrt einen ein Toningenieur auch das genaue Hinsehen. Der Donauwalzer war ihm übrigens schon mal auf der Tonspur von Emir Kusturicas »Schwarze Katze, weißer Kater« begegnet; wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. »Das erklärt vielleicht,« vermutete er, »weshalb ich eine so große Zärtlichkeit in dieser Szene spüre.«

Die nächste Sequenz, die im Apartment von Zweigs erster Frau in New York spielt, stellte ihn vor ganz andere Herausforderungen: »Das Studio, in sie dem gedreht wurde, war viel zu groß. Die Stimmen der Darsteller hatten eine zu starke Resonanz. Die musste ich in der Mischung reduzieren.« Hier zielte seine Arbeit vor allem auf topographische Glaubwürdigkeit. Die Straßengeräusche mussten dosiert werden. In der Küche, die zum Hof liegt, hört man sie kaum. Wenn Zweig dann zur Tür geht, um seiner Tochter zu öffnen, brechen sie fast schockartig in die Szene ein. Atmosphärisch spielt sie mit dem Gegensatz von warmem Interieur und dem Sturm, der draußen tobt. Die Tondramaturgie folgt einer aufsteigenden Linie: »Wie so oft in diesem Film sprechen mehrere Figuren gleichzeitig, es werden parallel Gespräche geführt. Als weiteres Element kommt die Jazz-Platte hinzu, die Zweigs Schwiegersohn auflegt. Das Ganze steigert sich zu einer veritablen Kakophonie.«

Diese bricht wiederum ab, sobald eine weißte Tafel die nächste Sequenz ankündigt, die in Petropolis an Zweigs Geburtstag spielt. »Die tropische Atmosphäre ist für einen Toningenieur natürlich ein Geschenk,« sagt Bruno. »Die Schreie der Vögel liefern ihm Farben, mit denen er hervorragend arbeiten kann. Aber man muss aufpassen, dass man sich nicht zu sehr darin verliert.« Er wies mich besonders auf den Moment hin, in der Zweig und der Berliner Verleger, den er zufällig trifft, von dessen Balkon auf die Landschaft blicken. »Da mussten wir das Ambiente zurücknehmen, dämpfen,« erläuterte er »denn die Freude an der Schönheit mündet diesmal in tiefe Verzweiflung. Hier spürt man Zweigs Heimweh besonders stark, finde ich. Deshalb mussten wir ihn akustisch wieder in eine Blase einschließen, für einen kurzen, flüchtigen Moment.«

Ihm sei bei diesem Film an einer zeitgenössischen und gar nicht modernen High-Tech-Tonmischung gelegen, sagte er. Sie sollte zur Epoche passen, zu den Kostümen. Der Epilog war für ihn die Krönung seiner Arbeit am Film, eine wahrhafte Apotheose der akustischen Rauminszenierung. Beim Direktton war kaum ein Wort zu verstehen, die Stimmen mussten erst in den richtigen Abstand zueinander gebracht werden, damit der Zuschauer sie zuordnen kann. »Die Plansequenz ist ja visuell bereits unheimlich komplex, vor allem durch den Spiegel des Wandschranks, der sich verschiebt und dadurch weitere Teile des Raums zeigt,« beschrieb er die Szene. »Es gibt eine Vielzahl von Figuren, die wir präzise im Raum verorten mussten. Einige Charaktere sind tief im Bildhintergrund zu sehen, ihr eStimmen klingen, als seien sie zehn, zwanzig Meter entfernt. Andere Stimmen hört man nur aus dem Off, aber sie klingen, als ob sie nur ein, zwei Meter von uns entfernt sind.« Bruno war begeistert, wie klar Maria Schraders Vorstellungen waren. »Sie versteht es, zuzuhören«, sagte er. Das ist aus seinem Munde kein banales Komplimente. Ich schaute unterdessen auf die Uhr: Wir hatten schon länger miteinander geredet, als der Film dauert. Unser Gespräch über »Colonia Dignidad« verschoben wir auf den Sommer, wenn er auf DVD herauskommt.

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