Sky: »Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre«

»Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre« (2023). © Sky

»Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre« (2023). © Sky

Glaubwürdigkeitsverlust

Ein rassistischer Patriot, der im selbst ernannten Auftrag an der Grenze zwischen Mexiko und Arizona Migranten wie Freiwild abknallt? Ein Junge, der mit einem Graffiti versehentlich den Syrienkrieg auslöste? Und eine Amerikanerin, die von Gefängnis zu Gefängnis pilgert, um als Zeugin bei Hinrichtungen anwesend zu sein? Als sich herausstellte, dass diese und 60 weitere Reportagen, wie der »Spiegel«-Chefredakteur Steffen Klusmann zu Protokoll gab, »quasi ausschließlich Fälschungen« waren, erinnerte der Skandal an das Ausmaß der gefaketen Hitler-Tagebücher. Bully Herbigs Spielfilmsatire »Tausend Zeilen« mit Jonas Nay als Claas Relotius blieb hinter den Erwartungen zurück. Nun widmet sich eine Sky-Dokumentation dem journalistischen Hochstapler. Daniel Andreas Sager, der in »Hinter den Schlagzeilen« sensible Einblicke in die Recherchen namhafter Journalisten gab, schlägt darin einen Bogen zurück vom Zusammenbruch des Kartenhauses bis zu den Anfängen von Relotius' märchenhafter Karriere beim Schweizer »Reportagen«-Magazin. Selbstkritisch räumt dessen Chefreporter Daniel Puntas ein, dass er anfangs an dem Reporter zweifelte: Hatten US-Strafvollstreckungsbehörden tatsächlich einen unbekannten Deutschen in die Hinrichtungsräume vorgelassen – deren Abmessungen der Autor mit fingierter Akribie auf den halben Meter genau beschreibt?

Der Journalisten-Preis, den der Newcomer für diese Räuberpistole erhielt, fungierte als Türöffner. Mit der »Lizenz zum Lügen« in der Tasche legte er beim »Spiegel« erst richtig los. Die naheliegende Frage, die Sager aufwirft, lautet daher: Wie konnte der umtriebige Pfuscher nur die allmächtige Dokumentation austricksen, in der jeder Artikel vor Veröffentlichung akribisch geprüft wird?

Auskunft erteilen nicht etwa jene zwei Dutzend angefragte »Spiegel«-Redakteure, die sich in Schweigen hüllen. Gemäß einem Hinweis des Ex-»Spiegel«-Mitarbeiters Stefan Niggemeier arbeitete Relotius für das Ressort Gesellschaft. Und hier gelten eben »andere Standards«. Systemversagen.

Die Dokumentation stützt sich auf Recherchen jenes früheren Relotius-Kollegen, der die Affäre ins Rollen brachte. Juan Moreno wies der Resortleitung des »Spiegel« nach, dass der vermeintliche Migranten-Jäger Tim Foley – der in Relotius' Reportage ausführlich »zu Wort« kommt – tatsächlich nie mit dem Reporter gesprochen hat. Moreno wurde daraufhin die freie Mitarbeit gekündigt. Begründung: Er habe die Beweise gefälscht.

Der aufwendig recherchierte Film erhebt nachvollziehbare Vorwürfe an die hausinterne Aufklärung der Affäre. Durch den Verzicht auf eine Anklage sei das eigentliche Systemversagen verschleiert worden. In der Folge griff Ansehensverlust wie ein Virus auf die gesamte Branche über. SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach schlägt Alarm: Sein Blatt erhalte tagtäglich Leserbriefe, in denen der Glaubwürdigkeitsverlust mit dem Fall Relotius begründet wird.

Sager gelingt eine sehenswerte, packende Dokumentation, in der er zuletzt anhand zahlreicher blumiger Textbeispiele auch mit dem hartnäckigen Mythos aufräumt, Relotius' Ergüsse hätten gar eine literarische Qualität gehabt.

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