Apple TV+: »Cherry – Das Ende aller Unschuld«

englisch © Apple TV+

Die Folgen des Traumas

Mehr als zehn Jahre lang verlief die Regiekarriere von Anthony und Joe Russo ziemlich unauffällig. Die eine oder andere durchschnittlich erfolgreiche Independent-Komödie ­(»Safecrackers«, »Ich, Du und der Andere«) und vor allem jede Menge TV-Episoden (»Arrested ­Development«, »Community«), so hätte es weitergehen können. Doch dann heuerten die Brüder im Marvel-Universum an – und sind heute, zwei »Captain America«- und zwei »Avengers«-Filme später, die kommerziell erfolgreichsten Regisseure der Welt.

Für ihre erste Inszenierung nach der Superhelden-Ära haben sich die Russos den autobiografisch inspirierten Bestseller »Cherry« von Nico Walker vorgeknöpft, der in den USA als erster großer Roman der Opioid-Epidemie gefeiert wurde. Als Hauptdarsteller haben sie ihren jungen Wegbegleiter Tom »Spider-Man« Holland in dessen bislang erwachsenster Rolle besetzt.

Der spielt hier nun wacker den titelgebenden Protagonisten, der 2002 am College eher überfordert ist und sich – als seine Freundin Schluss macht – spontan bei der Army meldet. Zwar entscheidet sich Emily (Ciara Bravo) dann doch noch einmal um, und die beiden heiraten sogar kurz entschlossen, doch danach muss Cherry ins Bootcamp und dann auch schon zum Einsatz als Sanitäter in den Irak, wo der Anblick zerfetzter Gedärme und toter Kameraden nur schwer zu verkraften ist. Bei der Rückkehr wartet zwar die große Liebe, aber auch eine posttraumatische Belastungsstörung, die der den Drogen noch nie abgeneigte Kriegsveteran mit Oxycodon bekämpft. Bald ist nicht nur er, sondern auch Emily schwer abhängig – und der Schuldenberg bei Dealern so hoch, dass Cherry damit beginnt, Banken zu überfallen.

All das ist als Narrativ im Kino nicht sehr neu, aber durchaus erschütternd. »Cherry« allerdings lässt einen ziemlich kalt, was nicht zuletzt da­ran liegt, dass der Film es von Anfang an versäumt, seinem Protagonisten eine echte Persönlichkeit zu verpassen oder die große Liebe zwischen ihm und Emily nachvollziehbar zu machen. Bei der Übertragung der Ich-Erzählper­spektive ins Drehbuch fällt den Autorinnen Jessica Goldberg und Angela Russo-Otstot (eine Schwester der Regisseure) nichts anderes ein, als ihn in einer Tour das Offensichtliche kommentieren zu lassen, mal aus dem Off, mal frontal in die Kamera.

Überhaupt scheinen die Russos aus den riesigen Dimensionen der Marvel-Welten die irrige Annahme mitgebracht zu haben, man könne Feinheiten auch mit dem Holzhammer herausarbeiten. Hier nämlich ist nichts, aber auch gar nichts subtil. Nicht die Unterteilung in Kapitel und deren Titel (»Part 5: Dope Life«), nicht die effekthascherischen Kameramätzchen (beim Militärarzt geht's tief rein in Anus und Enddarm), weder die endlosen Zeitlupen noch die penetrante Song- und Score-Untermalung. Dass die Banken, die Cherry ausraubt, Namen wie »Shitty Bank« oder »Bank Fucks America« tragen, bringt die Plumpheit dieses mit 140 Minuten viel zu langen Films – und seiner fehlplatzierten Humoranflüge – ganz gut auf den Punkt.

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