Retro: In einem Kino, vor langer Zeit

Gabriel LaBelle in »Die Fabelmans« (2022). © Storyteller Distribution Co., LLC

Gabriel LaBelle in »Die Fabelmans« (2022). © Storyteller Distribution Co., LLC

Es sieht finster aus da draußen in der Welt. Könnte das der Grund sein, warum so viele Regisseure sich gerade ­sehnsuchtsvoll an ihre Kindheit und Jugend erinnern? Tim Lindemann über Retro-Phänomene

Dass Hollywood bereits seit einiger Zeit vor allem als Händler verschiedener Versionen behaglicher Nostalgie auftritt, ist mittlerweile ein Gemeinplatz: Ob Spider-Man, Barbie, Rocky Balboa, die Ghostbusters oder die Addams Family – so ziemlich alle amerikanischen Jugendidole der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bevölkern derzeit wieder unsere Leinwände. Eine neuere Erkenntnis hingegen ist, dass auch Regisseure, die zumindest zeitweise für eine postmoderne Brechung von etablierten Hollywoodregeln standen, sich mittlerweile unironisch der Sehnsucht nach der Vergangenheit hingeben. Sie imaginieren dabei eine Art idealisierte Traumversion der USA, in der je nach Geschmack entweder die sechziger, siebziger oder achtziger Jahre den Höhepunkt ihres geliebten Mediums Kino darstellen. In einer zunehmend unsicheren Welt und angesichts der wachsenden Relevanz neuer visueller Medien ziehen sich die vormals jungen Wilden zurück in die Vergangenheit. Ist der amerikanische Film im Begriff, seinen Bezug zur Gegenwart gänzlich zu verlieren?

Allein in den letzten paar Monaten erreichten uns zwei beinahe handlungsgleiche Filme, die mit cineastischem Geschick die Kindheit ihrer Autoren wiederauferstehen lassen. In »Zeiten des Umbruchs« (Armageddon Time) erzählt der Indie-Regisseur James Gray seine Jugend im New Yorker Stadtteil Queens der frühen Achtziger nach, besonders sein aufkeimendes Interesse an Kunst und Kino. Der Film entwirft ein sympathisches Bild der jüdischen Familie Graff, die für Grays Familie einsteht, und bemüht sich, wenn auch teilweise etwas hölzern, Erfahrungen von Rassismus miteinzuflechten. Sehr ähnlich geht Regie-Legende Steven Spielberg im autobiografisch geprägten »Die Fabelmans« vor: Auch hier steht ein filmbegeisterter jüdischer Teenager, Sammy (Gabriel LaBelle), im Zentrum des Plots; auch hier muss der Protagonist um das Verständnis seines Vaters und gegen bigotte Klassenkameraden kämpfen. 

Beide Filme sind empathische, visuell ansprechende Milieustudien, die mit großem Aufwand die Details der sechziger und achtziger Jahre rekreieren. Es sind liebevoll inszenierte Erinnerungen an relativ unbeschwerte Zeiten, die sich, wenn auch eher pflichtbewusst, durchaus mit der privilegierten Perspektive ihrer Autoren auf die Vergangenheit auseinandersetzen. Dennoch hinterlassen sie einen bitteren Nachgeschmack: Zwei überaus talentierte Künstler ergeben sich hier gänzlich der Faszination der eigenen Biografie. Die herzerwärmende, detailverliebte Inszenierung trägt zu einem insgesamt rückwärtsgewandten und konservativ anmutenden Ton bei, den man von beiden Regisseuren so bislang kaum gewohnt war. 

»Once Upon a Time in Hollywood« (2019). © Sony Pictures

Noch ausgeprägter ist diese Tendenz mittlerweile in den Filmen zweier Filmemacher, die schon in ihren frühen Werken ein dezidiertes Interesse an vergangener US-Popkultur zur Schau stellten. Da ist zum einen der unbestrittene Retro-­König Quentin Tarantino, dessen Liebe zum Amerika seiner Jugend sein gesamtes filmisches Werk bestimmt. In den frühen neunziger Jahren war seine umfassende Kenntnis des lange vom Mainstream geschmähten Siebziger-Exploitation-Kinos durchaus subversiv; seine cleveren Collagen aus B-Movie-Versatzstücken warfen ein neues Licht auf diese zu Unrecht missachteten Low-Budget-Kultfilme und fingen zugleich den ironischen Zeitgeist der Gegenwart ein. 

Doch Tarantinos Filme verloren sich zunehmend in den Wirrungen aus Zitaten und Anspielungen. Im Vergleich zu seinem Frühwerk funktioniert gerade sein letzter Film »Es war einmal in Hollywood« lediglich als beinahe perfektes Simulacrum des Hollywoods der siebziger Jahre, hinter dessen stylisher Fassade eine gewisse Leere herrscht. Der Film dichtet den Mord an der Schauspielerin Sharon Tate durch die Mansonfamily um und ergeht sich nebenher in einer Unzahl aus Referenzen an Musik, TV, Kino und Mode der Zeit, ohne daraus jemals mehr als bloßes Ambiente zu machen. In »Jackie Brown« (1997) hatte Tarantino noch durchaus Interesse an den realen Problemen echter Menschen gezeigt und verband das effektvoll mit einem progressiven Update des Blaxploitation-Genres. 

Einen ähnlichen Weg hat Paul Thomas Anderson eingeschlagen. Bei einem Blick auf seine ­Filmografie stellt sich ebenfalls die Frage, ob den Filmemacher eine ausgeprägte Abneigung gegenüber der Gegenwart umtreibt. Schon 2002, nach »Punch-Drunk Love«, hat er sich aus der Jetztzeit verabschiedet und blickt zunehmend verklärter zurück auf die US-amerikanische Geschichte. War »The Master« noch ein grandioses Zeitporträt der Nachkriegswirrungen, so hat Andersons neue­ster Film »Licorice Pizza« nicht mehr viel über die Vergangenheit zu sagen, sondern ist durch­zogen von einer überwältigenden Sehnsucht. Der Film erzählt (durchaus unterhaltsam) von einer ungleichen Jugendliebe im Kalifornien des Jahres 1973 und – natürlich! – von der Magie des zeit­genössischen Kinos. 

Wie eine warme Decke umschmeicheln dabei die Seventies-Popsongs und das bunte Setdesign das Publikum. Am Ende der mäandernden Story steht die melancholische Erkenntnis, dass eine Rückkehr zu dieser zwar rauen, aber angeblich freieren Zeit unmöglich ist. Im Vergleich mit »Zeiten des Umbruchs« und »Die Fabelmans« ist das Bild der Vergangenheit in »Licorice Pizza« noch selektiver. Der damals vorherrschende Rassismus gegenüber nicht-weißen Amerikanern etwa kommt bei Anderson nur als beiläufiger Witz im übertriebenen japanischen Akzent vor. Hier fehlt scheinbar der Wunsch, durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte etwas über das Heute zu sagen – außer, dass man ihm gern entfliehen würde. 

Die Liste ließe sich weiterführen. Die Coen-Brüder folgen mit ihren letzten Filmen einem ähnlichen Trend. Ein präzise beobachtetes satirisches Stück Gegenwartskino wie »The Big Lebowski« ist den beiden mittlerweile kaum noch zuzutrauen, spätestens mit »Hail, Caesar!« erfolgte der Abstieg in die nostalgische Genre-Persiflage. Wes Anderson, wenn auch schon immer ein exzentrischer Träumer des US-Kinos, verliert in seinem perfekt strukturierten Filmkosmos ebenfalls zunehmend den Bezug zur Gegenwart, ebenso David O. Russell mit der Retro-Krimikomödie »Amsterdam«. Auch auf britische Regisseure wie Guy Ritchie und Sam Mendes, die hauptsächlich in Hollywood arbeiten, hat der Trend offensichtlich abgefärbt: Mendes verzehrt sich in »Empire of Light« nach dem Kino des vergangenen Jahrtausends als Medium der Verständigung und Solidarität; Ritchies jüngere Filme folgen weiterhin dem Siebziger-Gangster-Trend.

Was mag der Grund für diese Obsession mit einer bestimmten Version der Vergangenheit sein? Neben einer allgemeinen nostalgischen Disposition scheinen diese Männer der sogenannten Generation X (und Vorgänger wie Spielberg) vor allem ästhetische Aspekte anzutreiben. Seit gut zehn Jahren hat sich ein Großteil des Alltagslebens in westlichen Ländern wie den USA in vielen Bereichen ins Digitale verlagert. Das Internet und mit ihm verbundene Phänomene wie Smartphones, soziale Medien und Streamingplattformen verweigern sich aber einer filmischen Inszenierung, die am analogen Stil der Nouvelle Vague und des New Hollywoods der siebziger Jahre geschult wurde. Charaktere, die mit Airpods im Ohr auf dem Smartphone Musik hören, Filme auf Netflix streamen und vapen, statt Zigaretten zu rauchen, passen einfach nicht in die von Tarantino und Co. imaginierte Form von Coolness. Hier huldigt man noch Vinyl, Papier und Zelluloid.

Man kann das einerseits durchaus nachvollziehen: Die fortschreitende Digitalisierung macht es verlockend, sich in eine taktile Vergangenheit zu verkriechen. Dass der Bedarf nach diesem Eskapismus angesichts fürchterlicher weltweiter Krisen wächst, ist zudem verständlich und auch keineswegs verwerflich. Doch retrospektiv heißt ja nicht automatisch reaktionär und kann auch ganz anders funktionieren: Das beweisen sowohl die prägnanten historischen Western von Kelly Reichardt als auch ein Film wie Todd Fields »Tár«, der zwar in der Gegenwart verankert ist, aber Inspiration unter anderem von Chantal Akermans avantgardistischen Filmen der 1970er bezieht. Die sozialkritischen Politthriller der Epoche wie »Klute« und »Blow Out« hätten ebenfalls ein Update verdient – Gründe zur Kritik des amerikanischen Traums gibt es schließlich genug. Bleibt nur zu hoffen, dass diese wichtigen Figuren des amerikanischen Kinos zurück zum Puls der Zeit finden und nicht in Nostalgie erstarren.

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