Kritik zu Zeiten des Umbruchs

© Universal Pictures

Der Film ist autobiografisch, aber nicht egozentrisch. In James Grays Erinnerungen an seine Kindheit im Queens der frühen 80er zeichnen sich bereits die Konflikte ab, die Amerika heute an den Rand des Bürgerkriegs bringen

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Autobiografisch inspirierte Auseinandersetzungen lassen sich auf Leinwand und Bildschirm in letzter Zeit gleich reihenweise finden. Ob Paolo Sorrentinos »Die Hand Gottes«, Alejandro Iñárritu mit »Bardo« oder demnächst Steven Spielberg mit »The Fabelmans«: Es sind vor allem Männer in der zweiten Lebenshälfte, die mal pompös, mal nostalgisch, mal etwas narzisstisch aus der eigenen Nabelschau großes Kino machen. Der 53-jährige US-Amerikaner James Gray (»Little Odessa«, »Helden der Nacht«) liefert nun in »Zeiten des Umbruchs« sein Selbstporträt des Künstlers als junger Mann. 

Sein Alter Ego ist der elfjährige Paul Graff (Michael Banks Repeta), der in einer ukrainisch-jüdischen Mittelschichtsfamilie im Queens der frühen 80er Jahre aufwächst. Gray weitet die semifiktionalen Kindheitserinnerungen allerdings zu einem Panorama über weiße Privilegien und Rassismus in der beginnenden Reagan-Ära, deren Auswüchse bald den amerikanischen Traum vergiften und erst heute durch Donald Trumps Einfluss im Extrem so richtig sichtbar werden. Damals wird der Stadtteil, in dem auch Gray unter ganz ähnlichen Umständen aufwuchs, beherrscht von Donalds Vater, dem Immobilienunternehmer Fred Trump (John Diehl), er ist Vorsitzender im Fördergremium der Privatschule, auf die Paul nach einem Vorfall geschickt wird. Dieselbe Schule, auf die auch Donald ging, der im Film allerdings nicht vorkommt, anders als dessen älteste Schwester Maryanne (Jessica Chastain in einem eiskalten Cameoauftritt).

Die Handlung von »Zeiten des Umbruchs« erstreckt sich über zwei Monate 1980, vom ersten Schultag bis zur Wahl Ronald Rea­gans am 4. November, der als Präsidentschaftskandidat ein »Armageddon« heraufbeschwor (»Armageddon Time« lautet auch der Originaltitel von Grays Film). Paul ist ein sensibler und verträumter Junge, dessen künstlerische Ader allenfalls vom gutmütigen Großvater Aaron (Anthony Hopkins), dem von Verfolgung geprägten ukrainischen Einwanderer, verstanden und gefördert wird. Pauls überbeschützende Mutter Esther (Anne Hathaway) ist im Elternbeirat der Schule engagiert, der leicht cholerische Vater Irving (Jeremy Strong) ist Kleinunternehmer, das Geld für die teure Privatschule reicht nur für Pauls älteren Bruder Ted (Ryan Sell). Auf der staatlichen Schule, die Paul anfangs besucht, freundet sich der Junge mit Johnny (Jaylin Webb) an, der für die Clownerien, die sie beide anstellen, vom höchst rassistischen Lehrer deutlich strenger getadelt wird, weil er der einzige schwarze Junge in der Klasse ist. Bei einem Schulausflug stehlen sich die beiden davon, fahren allein U-Bahn und erzählen sich begeistert von ihren Leidenschaften, Paul fürs Zeichnen, Johnny für die Raumfahrt. Als sie später mit einem Joint erwischt werden, eskaliert die Situation. Um ihren Sohn vor dem vermeintlich schlechten Einfluss zu bewahren, beschließt Pauls Mutter, ihre Prinzipien über Bord werfend, ihn ebenfalls auf die versnobte Eliteschule zu schicken. Dort beginnt sich der Junge mühsam zu arrangieren, nicht immer ehrenhaft und bald auch auf Kosten der Freundschaft zu Johnny, der auf der Flucht vor dem Jugendamt schließlich auf der Straße landet. Nur der alte Aaron ermahnt seinen Enkel, ein Mensch zu sein und nicht wegzusehen, wenn anderen Unrecht widerfährt. 

Gray erzählt von diesen sozialen Verwerfungen aus kindlicher Perspektive, als klassisches, bisweilen etwas sentimentales Erzählkino, das von der hochkarätigen Besetzung lebt und ohne postmoderne Spielereien auskommt. Mit persönlichem Blick und gewissem ironischem Witz inszeniert er eine Jugend in den frühen Achtzigern, die Kameramann Darius Khondji in herbstlich gedeckten Tönen und erstmals digitalen Bildern einfängt. In ihrer skrupellosen Gier und ihrem politischen Reaktionismus erscheint diese Zeit in Grays Rückblick durchaus nachvollziehbar als Brutstätte des späteren Trumpismus. Ein Familiendrama, das im Kleinen spiegelt, wohin das ganze Land steuern wird.

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