74. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Menschen in der Welt
»Mama« (2025). © Matan Radin / Baryo / Morefilm / Intramovies

»Mama« (2025). © Matan Radin / Baryo / Morefilm / Intramovies

Generationenkonflikte und Geistergeschichten: wieder mal ein beeindruckendes Programm beim 74. Internationalen Filmfest Mannheim-Heidelberg

Man muss nicht immer bis zum letzten Tag des Jahres warten, um Rückblick zu halten oder ein Resümee zu ziehen. Nehmen wir doch einmal die Spanne zwischen der 73. Ausgabe des Internationalen Filmfests Mannheim-Heidelberg im letzten Jahr und der diesjährigen Ausgabe, der 74. Und schauen wir uns einmal an, welche Filme aus dem letztjährigen Wettbewerb »On the Rise« in die deutschen Kinos gekommen sind. Das Resümee fällt, vorsichtig gesagt, besorgniserregend, um nicht zu sagen: niederschmetternd aus. Gerade die drei US-amerikanischen Independent-Filme »Dead Mail«, »Familiar Touch« und »Gazer« haben es nicht geschafft. Und der chinesische »Bound in Heaven«, einer der besten Filme des 2024er Jahrgangs und eines der bewegendsten Melodramen der letzten Jahre, sowie das Missbrauchsdrama »Manas« ebenfalls nicht. Den französischen »Kingdom« brachte immerhin der rührige Progress-Verleih auf die deutschen Leinwände, Gott sei Dank.

Es spricht nicht gegen die Auswahl des Festivals, ganz im Gegenteil. Die genannten Filme waren weder spröde noch irgendwie experimentell, was ja immer ein billiger Vorwurf ist. Nein, es spricht gegen die hiesige Film- und Kinolandschaft, in der es Filme jenseits des Universums von US-Majors, französischen Komödien, bekannten Autorenfilmernamen und deutschen Werken schwer haben. Wer sich etwa über den Marktanteil des deutschen Films freut, sollte bedenken, dass die Fülle erstaufgeführter deutscher Filme, über 200 waren es in 2024 (vier pro Woche!), auch die Leinwände verstopfen: Die deutsche Fördergesetzgebung verlangt ja meist schon in der Produktionsphase einen Verleihvertrag, der dann auch gefördert wird. Sicher, es gibt auch bei uns mutige und risikobereite Verleihunternehmen, wie der Frankfurter JIP Verleih (der zuletzt den großartigen chilenischen Wüstenwestern »Bitter Gold« ins Kino brachte), aber es wird nicht einfacher für sie.

In dieser verengten Situation wird ein Festival wie das Mannheim-Heidelberger immer wichtiger. Weil es eine Vielfalt im Weltkino zeigt, die im Kinoprogramm nicht vorhanden ist. Und ihm dadurch auch einen Spiegel vorhält. Sicherlich, Mannheim war immer schon ein Entdecker-Festival. Wer m Festival-Archiv stöbert, merkt, dass in Mannheim etwa schon früh Werke des neuen deutschen Films in seinen verschiedenen Richtungen liefen, 1966 etwa Filme von Walter Krüttner, Strobel/Tichawsky, Klaus Lemke und Roland Klick, aber auch Kluges »Abschied von gestern«, der im selben Jahr in Venedig einen Silbernen Löwen gewonnen hatte. Und diese Entdecker-Rolle hat Mannheim in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut. Und mit 35.000 Besuchern in diesem Jahr auch ein Publikum gefunden. 

»Menschen in der Welt« hieß ein Programm der Festivalausgabe des Jahres 1959, und dieses Motto könnte durchaus in diesem Jahr über dem Wettbewerb gestanden haben (tatsächlich hieß das Festivalmotto »Feel Good?!«). Der Wettbewerb »On the Rise« versammelt in Mannheim-Heidelberg Debüt- und zweite Filme, und die Distanz und Konflikte zwischen den Generationen ist ein naheliegendes Thema für junge Filmemacherinnen und -macher. Jede(r) Heranwachsende eckt irgendwo an, das gehört gewissermaßen dazu, aber wann fängt es an, pathologisch zu werden? Diesem schmalen Grat widmeten sich in Mannheim zwei Filme. Der jordanische Beitrag »Sink« von Zain Duraie beginnt damit, dass der Schüler Basil von der Schule suspendiert wird, weil er sich unbeherrscht gegenüber einem Lehrer verhalten hat. Die Mutter wittert eine Ungerechtigkeit, der Vater wünscht sich einen »normalen« Sohn – und ist sowieso meist weg. Basil darf noch die Abschlussprüfungen machen, lernt zuhause. Und wird zunehmend sonderbarer. Lange lässt es »Sink« in der Schwebe, ob Basil tatsächlich an einer Störung leidet, und noch länger weigert sich die Mutter, eine solche anzuerkennen. Aus Schuldgefühlen? Aus Angst? Da gibt der Film, der den Preis der Ökumenischen Jury bekam, keine einfache Antwort. Auch »Blue Heron«, eine ungarisch-kanadische Produktion, ist die Innenaufnahme einer Familie, einer sechsköpfigen ungarischstämmigen Familie, die in den 90er Jahren im kanadischen Vancouver Fuß zu fassen versucht. Jeremy, etwa im gleichen Alter wie Basil, ist von starken Stimmungsschwankungen geprägt, er klaut schon mal, ist rebellisch und aggressiv. Erzählt wird der detailreich und fast impressionistisch fotografierte Film aus der Perspektive des jüngsten Familienmitglieds, des Mädchens Sasha. Und die steht im Mittelpunkt des ganz besonderen Kniffs des Films: In der zweiten Hälfte sehen wir sie als Erwachsene, als Filmemacherin, die Fachleuten den Fall 30 Jahre später noch einmal vorlegt. Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, und Regisseurin und Autorin Sophy Romvari hat dafür zurecht den Preis für das beste Drehbuch von der internationalen Jury bekommen.

Die beeindruckende israelisch-polnische Produktion »Mama« von Or Sinai schildert die Entfremdung zwischen den Generationen, wie der Titel schon andeutet, aus der Perspektive der Mutter Mila, die nach 15 Jahren als Haushälterin in Israel in ihr polnisches Heimatdorf zurückkehrt und sich eingestehen muss, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war: Ihr Mann hat eine neue Lebensgefährtin, der Bau des von ihr finanzierten neuen Hauses stockt, und die Tochter will lieber heiraten und ein Kind bekommen als studieren. Es ist für Mila der Zusammenbruch einer Welt, über die sie die Kontrolle verliert oder schon verloren hat. Mila wird verkörpert in diesem Film, der sowohl eine präzise Charakterstudie als auch ein Statement zum Thema Migration ist, von der hervorragenden israelischen, aus Belarus stammenden Schauspielerin Evgenia Dodina. Und im chilenischen »Cuerpo Celeste« von Nayra Ilic Garcia ist die Familiengeschichte mit der politischen Geschichte verwoben: Erst nach und nach begreift die 15jährige Celeste nach dem Tod ihres Vaters, dass ihre Eltern, beides Archäologen, Hinweise auf den Verbleib von Opfern des Pinochet-Regimes gegeben haben – ein gefährliches Unterfangen auch noch nach 1990, dem ersten Jahr mit freien Wahlen seit 17 Jahren in Chile. »Cuerpo Celeste« bedeutet »Himmelskörper«, denn nach einem Jahr kehrt Celeste in die Gegend zurück, in der die Leute auf eine Sonnenfinsternis warten. Garcia hat ihren Film an der Küste der kargen Atacama-Wüste gedreht, wo die Menschen wie Ausgesetzte wirken, aber das wunderbar eingefangene warme Licht bringt einen poetischen Touch in den Film.

Wie in dem Coming-of-Age-Drama »Cuerpo Celeste« steht auch in dem chinesischen »Nighttime Sounds« von Zhang Zhongchen eine Mutter-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt. Wie viele chinesische Filme der letzten Jahre spielt er auf dem Land, wo die 8-jährige Qing mit ihrer Mutter lebt; der Vater arbeitet weit weg. In der Schule wird Qing angefeindet, als »Hurentochter« bezeichnet, und inmitten der Weizenfelder graben Archäologen nach Statuen aus der Song-Dynastie. Auf ihren Gängen trifft Qing auf ein anderes Mädchen, ganz in Weiß, eher eine Geistererscheinung denn ein Mensch; es sucht seine Mutter. Geister im Kino: Da bricht meistens die Vergangenheit durch (worauf ja schon die Statuen hindeuten), materialisiert sich lange Verdrängtes. Bei Qing ist es ein dunkler Fleck in der Familiengeschichte, eine Folge der lange währenden Ein-Kind-Politik Chinas. Wie viele Filme im Wettbewerb in diesem Jahr besitzt auch »Nighttime Sounds« eine beeindruckende optische Opulenz, viele Bilder bleiben lange in Erinnerung. Die Jury hat ihm den Hauptpreis, den International Newcomer Award, gegeben. Und es war auch nicht die einzige Geistergeschichte des Wettbewerbs. Man fand sie auch in »Funeral Casino Blues« von Roderick Warich, dem einzigen deutschen Beitrag des Wettbewerbs, eine ganz in Bangkok realisierte nächtliche Großstadtballade. Oder ganz dezidiert in dem japanischen »White Flowers And Fruits«, der in einem christlichen Mädcheninternat spielt; ganz plötzlich bringt sich da ein Mädchen um. Yukari Sakamoto hat ihren Film streng komponiert bis hin zur symmetrischen Aufteilung der Zimmer und im Gespräch in Mannheim Peter Weirs »Picnic at Hanging Rock« als Referenz bzw. Vorbild angegeben.

Ein großes Vorbild könnte auch für den niederländischen »Reedland« von Sven Bresser Pate gestanden haben. Wie die Reisfelder in der Gegend um Sevilla in »Mörderland«, einem der besten spanischen Filme der letzten Jahrzehnte, wiegen sich die Schilffelder im Norden Hollands, die die Bauern als Reet für die Dächer ernten. Und wie in »Mörderland« wird ein Mädchen tot gefunden, dessen Mörder der Bauer Johan nachspürt. Allerdings wird der Täter nie ermittelt werden in diesem Film, der auf der einen Seite die Lebensbedingungen der Reetbauern genau beschreibt, aber auf der anderen Seite einen Zug ins Meditative hat und mehr Fragen aufwirft, als er sie beantwortet. Die Jury der internationalen Filmkritik FIPRESCI hat ihm ihren Preis gegeben. Eine gute Entscheidung.

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