Kritik zu Kingdom – Die Zeit, die zählt

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Schonungsloses Gangsterdrama um Rache als Familienerbe, eine berührende Vater-Tochter-Beziehung und eine Coming-of-Age-Geschichte – voller Melancholie und Poesie

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Jagen ist ein zentrales Motiv, das Jagen von Wildschweinen, das Jagen von Menschen, das Gejagtsein und das Jagen, um einem Menschen nahe zu sein. In einer dieser ruhigen, melancholischen Szenen sagt Lesia (Ghjuvanna Benedetti), dass sie das Jagen, das Schießen gar nicht mag, es nur tut, um bei ihrem Vater zu sein. Ihr Vater ist Mitte der 1990er Jahre ein Mafiaboss im Süden Korsikas und selbst ein Gejagter – seiner Gegner, seiner Vergangenheit, seiner Schuld. Der Korse Julien Colonna erzählt in seinem Spielfilmdebüt ein unglamouröses Gangsterdrama, von einer berührenden Vater-Tochter-Beziehung und einer ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte. Colonna (Jahrgang 1982) ist der Sohn des 2006 ums Leben gekommenen Jean-Jé Colonna, eines mutmaßlichen Mafia-Bosses im Süden Korsikas.

Lesia ist 15, sie lebt bei ihrer Tante und erlebt gerade ihr erstes Verliebtsein in den Sommerferien. Eines Tages wird sie, einer Verschleppung gleich, auf einem Motorrad irgendwo aufs Land gebracht, wo ihr Vater in einem Unterschlupf mit vielen Männern lebt. Warum er dies tut und was er plant, bleibt Lesia lange verborgen. Und doch ahnt sie es, wenn immer wieder Fotos ihres Vaters und der Männer um ihn herum im Lokalteil der Zeitung auftauchen, sie alle plötzlich verschwinden oder sich an abgelegenen Orten mit anderen Männern treffen, Waffen und Informationen austauschen. 

Lesia und ihr Vater Pierre-Paul (Saveriu Santucci) scheinen sich kaum zu kennen und trotzdem herrscht eine innige Verbindung. So grausam und kaltblütig Pierre-Paul ist, so einfühlsam, liebevoll und voller Vertrauen ist er zu seiner Tochter. Irgendwann verständigen sich die beiden mit Blicken und kleinen Gesten ‒ sich der Gefahr immer bewusst, vor allem Pierre-Paul, der bis zum Schluss eine nicht greifbare Figur bleibt. In Colonnas »Kingdom« gibt es kein Schwarz und Weiß, sondern immer nur ein Grau, Zwischentöne, Ambivalenzen und die Suche der jungen Lesia nach ihrem Platz im Leben.

Julien Colonna, der das Drehbuch zusammen mit Jeanne Herry schrieb, betont in Interviews, dass es sich bei »Kingdom« um eine filmische Fiktion handelt, verleugnet aber nie die autobiografischen Elemente, Einsichten, die er als Kind und Jugendlicher wohl selbst erlangt hat. Er zeigt keinen luxuriösen Gangsteralltag, spektakuläre Verfolgungsjagden, geniale Verbrechen. Colonna erzählt von Rache als Familienerbe, von Büßern ihres eigenen Lebens. Ob Piere-Paul aus mafiösen, politischen oder rein persönlichen Motiven handelt, lässt er offen.

Im Mittelpunkt steht die jugendliche Lesia, die Colonna mit der Newcomerin Benedetti grandios besetzt hat. Sie gibt der Figur mit durchdringendem Blick und stets leicht gekräuselter Stirn eine stille, manchmal trotzige Entschlossenheit. Leichtigkeit, jugendliche Unbekümmertheit bleibt ihr verwehrt. Santucci hat Colonna auf Korsika entdeckt, eigentlich ist er dort Hirte und Landwirt. Gemeinsam entwickeln Benedetti und Santucci eine Verbindung, die berührt. »Kingdom« besticht mit seinen Bildern, den vielen stillen, poetischen Momenten, seiner schonungslosen Authentizität und den umwerfenden Hauptfiguren.

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