Kritik zu Kontinental '25
Radu Judes Satire ist eine Hommage an Rossellinis »Europa '51« und zugleich ein radikaler Gegenentwurf, der sich mit galligem Witz die Auswüchse des Neoliberalismus vornimmt
Radu Judes Filme sind oft schwer erträglich und das ist gut so. Denn das Anstrengende, auch Nervige ist bei ihm Prinzip und es setzt, wenn man sich darauf einlässt, unerwartete Denkräume frei. Das gilt für den Berlinale-Gewinner 2021 »Bad Luck Banging or Loony Porn« und seine assoziative Bilderflut ebenso wie für den in Locarno vor zwei Jahren ausgezeichneten »Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt« mit seinem anarchischen Mix aus Spielfilm, Essay und politischem Kommentar.
»Kontinental '25« ist zugleich Hommage und Provokation. Die Würdigung gilt Roberto Rossellinis »Europa '51«, jenem Meisterwerk des Neorealismus, in dem Ingrid Bergman eine Frau spielt, die nach dem Suizid ihres Sohnes durch das Nachkriegseuropa taumelt und im Schmerz zu einem radikalen Humanismus findet. Die Kampfansage richtet sich gegen eine Gegenwart, die auf die Katastrophe nicht im Krieg, sondern in den Strukturen der spätkapitalistischen Großstadt, im alltäglichen Gegeneinander und im moralischen Vakuum, zusteuert.
Wo Rossellini Pathos und christliche Symbolik wählte, setzt Jude auf Smartphone-Aufnahmen, statische Einstellungen und ein Feuerwerk an Dialogen. Seinen Film setzt ebenfalls ein Suizid in Bewegung. Als im transsilvanischen Cluj ein Obdachloser seine temporäre Bleibe in einem Kellerloch räumen soll, erhängt er sich aus Verzweiflung am Heizkörper. Die zuständige Gerichtsvollzieherin Orsolya (Eszter Tompa) fühlt sich mitschuldig und rekapituliert fortan immer wieder das Geschehen, während sie wie ein Resonanzkörper durch die Stadt zieht. Damit verschiebt Jude die religiös grundierte Reise der Läuterung bei Rossellini in die säkulare, diskursive Welt des Neoliberalismus: Hier wird nicht gebetet, hier wird gestritten, teils vulgär. Jedes Gespräch, das Orsolya führt, mit Liebhabern, Maklern, Priestern, Aktivisten, ist eine kleine Arena, in der sich die Ideologien des heutigen Rumäniens reiben. Nationalismus und Wohnungsnot, orthodoxe Moral und Internetmüdigkeit, Rassismus und liberale Heuchelei: Alles wird verhandelt, nichts wird gelöst. Rossellini glaubte noch an die Katharsis durch Mitgefühl, Jude glaubt an die endlose Wiederholung der Widersprüche.
Auch formal ist »Kontinental '25« ein radikaler Gegenentwurf. Das iPhone-Bild ruckelt und wird schon mal mittendrin nachfokussiert. Kameramann Marius Panduru verzichtet auf klassische Komposition und setzt auf scheinbar authentische Beiläufigkeit. Während Rossellini in den Nachkriegsjahren das Kino noch als moralisches Erweckungsinstrument verstand, zeigt Jude mit satirisch-galligem Witz, dass heute selbst das Bild banal geworden ist. Dennoch ist der Film weniger wild als seine früheren Werke, auf eine Art zugänglicher, in seiner Redundanz aber bisweilen ermüdend. Auch da muss man durch bei Jude, der auf der letzten Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhielt. In einer Welt, die von Dauerkrisen und Reizüberflutung erschöpft ist, gibt es keine Offenbarung, nur das ewige Kreisen um dieselben Fragen. Kakofonie und rasender Stillstand. Die Zumutung der Gegenwart. Radu Jude ist ihr Chronist.
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