Kritik zu 22 Bahnen
Nach dem Sensationserfolg des gleichnamigen Bestsellers folgt nun eine erwartbare Verfilmung, die vor allem durch die drei Hauptdarstellerinnen Luna Wedler, Laura Tonke und Zoë Baier lebt
Wenn sie den Kopf freibekommen und die Realität vorübergehend ausblenden will, schwimmt Tilda 22 Bahnen im Freibad. Und weil es im Leben der Studentin ziemlich vieles gibt, was neben dem Kopf auch die Seele belastet, springt sie eigentlich jeden Tag ins Becken. Tilda (Luna Wedler) lebt noch immer in der Universitätskleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. Während ihre beste Freundin Marlene (Zoe Fürmann) längst in die weite Welt aufgebrochen ist, jobbt sie neben dem Mathematikstudium im Supermarkt und kümmert sich ansonsten vor allem um ihre kleine Halbschwester Ida (Zoë Baier). Denn ihre gemeinsame Mutter Andrea (Laura Tonke) ist arbeitslos und Alkoholikerin; die Momente, in denen sie nach zu viel billigem Sekt fast die Küche in Brand setzt, gehören noch zu ihren besseren.
Als Tildas Professor ihr kurz vor den Semesterferien die Möglichkeit gibt, sich mit besten Aussichten auf eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, könnte sich ihr Leben für immer verändern. Doch so sehr sie von diesem Schritt träumt, so sehr schiebt die viel zu früh erwachsen gewordene junge Frau ihre Entscheidung auf. Zu wenig vertraut sie darauf, dass ihre Mutter die Sucht in den Griff bekommt; zu kurz ist die Zeit, um Ida dafür zu wappnen, künftig womöglich auf sich allein gestellt zu sein. Darüber hinaus verkompliziert das plötzliche Auftauchen von Viktor (Jannis Niewöhner) einiges. Das tragische Schicksal von dessen jüngerem Bruder Ivan (Kosmas Schmidt), mit dem Tilda zu Schulzeiten eng befreundet war, liegt wie ein weiterer Schatten über ihrem Leben, doch die Annäherung an Viktor und das gemeinsame Konfrontieren mit der Vergangenheit setzen eine emotionale Befreiung in Gang.
Zu behaupten, dass an Tildas Leben in den vergangenen Jahren mehr Menschen im deutschen Sprachraum Anteil nahmen als an irgendeinem anderen, dürfte kaum übertrieben sein. »22 Bahnen« erschien 2023 als Debütroman der Autorin Caroline Wahl und wurde zu einem Sensationserfolg, wie ihn die hiesige Literaturbranche nicht allzu häufig erlebt. Nach rund 600.000 verkauften Exemplaren ließ die Kinoverfilmung nicht lange auf sich warten.
In den Händen von Regisseurin Mia Maariel Meyer (»Die Saat«) und Drehbuchautorin Elena Hell (»Sisi«) liefert die Adaption im Großen und Ganzen das ab, was viele Fans erwarten. Die Geschichte mag ein wenig überfrachtet sein mit Trauma und Tragik, weiß aber auch auf der Leinwand zu rühren. Vor allem in den kleinen, beiläufigen Details, wie der erschütternden Routine, mit der selbst die kleine Tochter den Notarzt anruft und mit Blick auf ihre am Boden liegende Mutter auf Wodka und Benzos verweist.
In der Umsetzung ist »22 Bahnen« derweil allzu erwartbar geraten. Frei- und Schwimmbäder sind aus dem gehobenen Arthousekino als metaphorisch aufgeladenes Setting schon lange nicht mehr wegzudenken, eine Überzahl an oftmals halbherzig motivierten Flashbacks erst recht nicht. Dass praktisch alle Formen von Gefühlsausbrüchen zwingend mit Popsongs oder Filmmusik unterfüttert werden müssen, lässt jeden Anflug von Subtilität flöten gehen. Immerhin: Tokio Hotels inzwischen 20 Jahre alter Hit »Durch den Monsun« hat fast etwas Augenzwinkerndes – und der Score stammt von der verlässlich überzeugenden Filmpreisgewinnerin Dascha Dauenhauer.
Echte Kraft entwickelt der Film durch seine Hauptdarstellerinnen. Laura Tonke untermauert mit der komplexen wie zweischneidigen Mutterfigur ihr Ausnahmekönnen, während die junge Zoë Baier sich im Doppelpack mit »In die Sonne schauen« als großes Talent empfiehlt. Und Luna Wedler macht die inneren Widersprüche und Verunsicherungen ihrer oftmals so passiven Figur mit so vielen Nuancen sichtbar, dass sie einmal mehr beweist, warum ihr unter den deutschsprachigen Altersgenossinnen kaum jemand das Wasser reichen kann.
Kommentare
dilemma auf den punkt gebracht
Wie viel schuldet man seiner Familie (Angehörigen, Freunden, hier: die kleine Schwester) und gibt es Grenzen der Loyalität gegenüber der Familie? Diese spannenden Fragen verhandelt der Film, der inhaltlich eng am Buch bleibt. Herausragend gut, auf leise Art laut und gewalt(ät)ig.
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