Die Plansequenz: Im Strom der Bilder
»Russian Ark« (2002). © Delphi Filmverleih
Die Plansequenz sei eines der »virtuosesten Stil- und Erzählmittel des Films«, heißt es zur neuen Ausstellung des Filmmuseums in Frankfurt. Jannek Suhr erzählt, wie das Filmen in langen Einstellungen technisch möglich wurde und liefert aktuelle Beispiele
Beginn: Columbia Pictures. 0:08: Tanzmusik, unheimliches Ticken, eine Hand am Timer einer Bombe … 0:17: Schwenk auf ein lachendes Paar, das sich nähert … 0:27: ein Mann platziert die Bombe im Kofferraum eines Cabrios … 0:38: das Paar steigt ein, fährt los … 1:23: ein anderes Paar quert vor dem Wagen, die Kamera folgt ihm durch eine belebte Straße, das Cabrio stets in Sicht … 2:36: das Cabrio hält neben dem zweiten Paar, ein Wortwechsel … »I got that tickin' noise in my head« … 3:25: Zoom auf das zweite Paar, es folgt ein Kuss, doch dann ein Knall ... 3:28: Wooom! Die Bombe ist explodiert.
Diese Szene aus Orson Welles' »Touch of Evil« (Im Zeichen des Bösen, 1958) ist eines der berühmtesten Beispiele für eine Plansequenz –
eine Handlungseinheit, die in Echtzeit und mit einem einzigen Take aufgenommen wurde. Dabei handelt es sich um den filmischen Gegensatz zu Schnitt und Montage. Statt viele Einstellungen wie Puzzlestücke zu einem Ganzen zusammenzusetzen, entsteht hier eine durchgehende Einheit.
Plansequenzen gibt es seit Beginn der Filmgeschichte; Pioniere auf diesem Feld waren etwa Friedrich Wilhelm Murnau, Abel Gance oder eben Orson Welles. Große Bedeutung hatten Plansequenzen auch für Vertreter der Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, der einmal sagte, jeder Schnitt sei eine Lüge. Ähnlich sah es der Filmtheoretiker André Bazin, der einer ungeschnittenen Szene eine größere Natürlichkeit bescheinigte, weil sie eher der menschlichen Wahrnehmung entspreche. Beides höchst umstritten. Auch eine genaue Definition, wie umfangreich eine Szene ausfallen muss, um als Plansequenz zu gelten, gibt es nicht. Zudem müsste man unterscheiden zwischen Sequenzen mit Aktionen und solchen, in denen es kaum Handlung gibt wie im »Slow Cinema«. Kurz, es ist kompliziert, wie Marcus Stiglegger und Michael Kinzer im epd-Film-Gespräch feststellen.
Bei der Plansequenz, wie sie jetzt das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum in den Mittelpunkt stellt, geht es in der Regel um Bewegungschoreografien mit agiler Kamera. Die Formen sind vielfältig: Tanzeinlagen, Kampfhandlungen, Panoramaaufnahmen, Gänge durch bestimmte Örtlichkeiten. Oft gelten Plansequenzen als handwerkliche Meisterleistung. Für »Touch of Evil« wurde die Kamera auf einem auf Schienen fahrenden Kran befestigt, was unterschiedliche Aufnahmehöhen ermöglichte; die Aktionen und Bewegungsabläufe sowohl der Hauptdarsteller als auch der Komparsen mussten genauestens choreografiert und das restliche Team so platziert werden, dass kein Außenstehender sichtbar ist.
Die Geschichte von Plansequenzen ist immer auch eine der Filmtechnik. Egal ob Schienen und Kräne oder verbesserte Tiefenschärfe, jede neue Technik erweiterte die Möglichkeiten. Einen Meilenstein stellte die Entwicklung der Steadicam dar. Dieses Schwebestativ mit Trageweste und Gelenkarm ermöglichte ab den 70ern hohe Beweglichkeit, ohne dass verwackelte Bilder entstehen. Ein berühmtes Beispiel ist die »Copacabana«-Szene in »GoodFellas« (1990). Die Kamera von Michael Ballhaus folgt hier dem Mafioso Henry Hill, der seine spätere Frau Karen zum Essen in den Copacabana-Club ausführt. Als allseits bekannte Persönlichkeit nimmt Henry den Hintereingang und wir folgen den beiden quer durch das Chaos der Küche hin zum noblen Innenraum, wo Henry begrüßt und beide zum Tisch hofiert werden. Mustergültig umreißt die Sequenz die soziale Hierarchie und die Stellung Henrys in der Unterwelt.
Einen immensen Schub brachte schließlich die Digitalisierung, die neben mobilen Kameras auch die Speicherkapazitäten erhöhte. Bis dahin war die Aufnahmekapazität einer Kamera begrenzt; Hitchcock beispielsweise musste bei seinem »One Take«-Kammerspiel »Rope« (Ein Cocktail für eine Leiche, 1948) nach je zehn Minuten die Filmrolle wechseln. Die Schnitte kaschierte er durch Tricks – etwa, indem er mit der Kamera so nah an den Rücken einer Person heranging, dass das Bild kurzzeitig verdunkelt war. Der mit Videokameras und in vier parallel montierten Perspektiven gefilmte »Timecode« (2000) und Alexander Sokurows aufwendig inszenierter Historienfilm »Russian Ark« (2002) waren die ersten Filme, die komplett ohne Schnitt auskamen. Es folgten »Lost in London« (2017), »Utøya 22. Juli« (2018) und »Yes, Chef!« (2021) oder in Deutschland »Victoria« (2015), »Limbo« (2019) und »Lichter der Stadt« (2020). Die Digitalisierung hat aber auch die Möglichkeiten erweitert, Schnitte zu kaschieren. So wirken beispielsweise »Birdman« (2014) und »1917« (2019), als wären sie in einer Einstellung gedreht – die Schnitte sind dank geschickter Übergänge und digitaler Nachbearbeitung kaum zu bemerken. Auch in der Anfangsszene von »James Bond: Spectre« (2015) sind Schnitte versteckt. Aufwendig choreografiert sind solche Filme und Szenen aber weiterhin.
Ob eine Sequenz nun tatsächlich ohne Schnitt auskommt, ist für den Zuschauer oft kaum noch zu erkennen. Die Plansequenz als Form von Realität und Natürlichkeit kann man damit wohl ad acta legen. Umso mehr stellt sich die Frage nach Wirkung und Sinn. Schließlich besteht bei der Vielzahl an Möglichkeiten auch die Gefahr, dass das Stilmittel zum Selbstzweck wird. Eine Plansequenz kann ein Ausdruck künstlerischer Virtuosität sein, je nach Intention des Films werden aber unterschiedliche technische Formen benötigt.
Während Schnitt und Montage die Möglichkeit bieten, die Bindung an Zeit und Ort aufzusprengen und Bilder diskursiv nebeneinanderzustellen, kann die Plansequenz eine besondere Immersion erzeugen und die Zuschauer in ein Setting hineinziehen. Das ist ideal für Anfangssequenzen wie bei »Touch of Evil« oder »Spectre«; durch das Gefühl, unmittelbar vor Ort zu sein, wird aber auch die physische Anstrengung eines Boxkampfes wie in »Creed« (2015) und »Limbo« erfahrbar oder das traumatische Chaos von Kriegsszenarien wie in »1917« und »Atonement« (Abbitte, 2007). Damit der Effekt einsetzt, müssen die Settings ähnlich wie bei einer Theaterinszenierung genau durchdacht und gestaltet sein.
Große Bedeutung hat eine Plansequenz auch für die Darstellenden. Anstatt Szenen in kurzen, oft nicht chronologisch angeordneten Takes zu erarbeiten, bewegen sie sich nun über einen längeren Zeitraum in einer Szene, wodurch ein besonderer Spielfluss entstehen kann, die Darstellenden bestenfalls ganz in ihre Rollen eintauchen und Emotionen fließend aufeinander aufbauen. So verfolgt man bei Victoria, wie die Protagonisten eine feuchtfröhliche Nacht durchleben, die in einen kriminellen Akt und schließlich eine absolute Katastrophe übergeht.
Sehr gut verdeutlichen die Wirkung von Plansequenzen zwei aktuelle Beispiele. Zum einen Ryan Cooglers »Blood & Sinners«, eine fulminante Mischung aus Vampir-Horror und Südstaatendrama. In einer Szene im Juke Point, einem Nachtclub für die Schwarze Community, beginnt die Kamera, sich durch die tanzende Menge zu bewegen und plötzlich mischen sich afrikanische Stammestänzer, E-Gitarristen, Hip-Hopper, DJs ins 30er-Jahre-Setting. Es ist ein historischer Streifzug durch die musikalische Kultur der Schwarzen Community, ergänzt um weitere Kulturen des globalen Südens. Die Szene endet mit einem Blick in den Nachthimmel, ehe das gesamte Setting in Flammen aufgeht. Diese minutenlange Plansequenz stellt eine Besonderheit dar, denn sie wurde auf analogem IMAX gedreht. Da diese Kameras eine sehr geringe Aufnahmekapazität haben, wurde die Szene in drei Abschnitte unterteilt, die reibungslos ineinander übergehen. So lässt die Plansequenz Dynamik und Rhythmus entstehen und baut ein Gefühl der Surrealität und Mystik auf – sie erzeugt im besten Sinne des Wortes einen Rausch.
Stark diskutiert wurde zudem die Netflix-Serie »Adolescence«, die toxische Männlichkeit, Frauenhass, Mobbing und Incel-Kultur thematisiert und vom 13-jährigen Jamie erzählt, der seine Mitschülerin umgebracht hat. Besonders macht die Serie neben ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung, dass jede der vier Folgen in einem Take gedreht wurde. Dazu wurde die Kamera unter anderem an Drohnen befestigt und zwischen verschiedenen Kameraleuten hin und her gereicht; es mussten über 300 Komparsinnen und Komparsen koordiniert und die Folgen mehr als zehnmal gedreht werden. Die Wirkung des Stilmittels Plansequenz ist hier besonders vielfältig. Zu Beginn der ersten Folge stürmt ein Polizeitrupp in das Haus von Jamies Familie und verhaftet ihn. Ebenso unvermittelt wie die Familie wird man als Zuschauer ins Geschehen gezogen, folgt anschließend Jamie im Polizeiauto zum Revier, wo detaillierte Untersuchungen folgen und in einem beklemmenden Verhör zum ersten Mal die Tat zur Sprache kommt. Folge zwei wiederum spielt kurze Zeit später an Jamies Schule und zeigt einen atemlosen Fluss unterschiedlicher Figuren und Perspektiven, während Folge drei und vier von der Intensität und Dynamik einiger weniger Figuren leben.
»Adolescence« ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie ein brisantes Thema durch das stilistische Mittel der Plansequenz erzählerische Wucht entfaltet, da jede Folge aus einer konkreten Situation heraus die Emotionen der Figuren erfahrbar macht. Zugleich zeigt die Serie, wo die Grenzen des Stilmittels liegen. Denn jede Folge bleibt an Zeit und Ort gebunden, jeder Perspektivwechsel muss in einer vorgegebenen Choreografie erfolgen. Die Montage hätte diese Struktur aufbrechen können und beispielsweise die Möglichkeit gegeben, durch Rückblenden den genauen Tathergang zu zeigen oder Jamies Alltag im Gefängnis neben den der Familie zu stellen, wodurch noch einmal eine neue Auseinandersetzung stattgefunden hätte, die Dynamik der einzelnen Situation aber unterbrochen gewesen wäre. Eine Szene oder gar einen ganzen Film in einem Take zu drehen, ist nie nur eine formale Entscheidung, sondern auch eine inhaltliche.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns