Netflix: »Adolescence«

»Adolescence« (Miniserie, 2025). © Netflix

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Sensibel und ohne Fingerzeig

Die Miniserie »Adolescence« startete im März praktisch aus dem Nichts – und avancierte binnen weniger Wochen zu einem regelrechten Phänomen: Der britische Vierteiler über die emotionalen Tumulte, die der Mord eines 13-Jährigen an einer Mitschülerin auslöst, traf bei Eltern, Jugendlichen und Kritikern gleichermaßen einen Nerv. In »Adolescence« geht es um toxische Maskulinität und Mobbing, um Pubertät und Sexualität, um Gruppendynamik und fragile Männlichkeit. Kurz: Die Serie versucht, die Lebenswelt heutiger Jugendlicher zumindest ansatzweise zu erforschen und begreifbar zu machen, gerade auch in ihren beunruhigenden Seiten.

Es ist bemerkenswert, dass die letzte Serie, der das so intensiv gelang, ebenfalls zu einem medialen Phänomen avancierte und Kultstatus erlangte: »Euphoria«, eine amerikanische Produktion von 2019. Relevant ist diese Gleichung auch deshalb, weil beide Serien zwar inhaltlich verwandt sind, sich ansonsten aber wie Komplementärkontraste verhalten. »Euphoria« war schnell und grell inszeniert, moralisch ambivalent, dramaturgisch und ästhetisch zugespitzt; in den USA sprachen manche Elternverbände Warnungen aus. »Adolescence« ist eher ruhig und betont realistisch inszeniert, wozu auch der ästhetische Kniff gehört, jede der vier Episoden in einer einzigen, ungeschnittenen Einstellung zu erzählen. Anstelle von Warnungen wird die Serie nun mancherorts im Schulunterricht gezeigt. Das ist nachvollziehbar, denn »Adolescence« will nicht provozieren (wie »Euphoria«), sondern aufrütteln. Die Serie ist auch nicht aus der Perspektive der Jugendlichen erzählt, sondern aus der der Erwachsenen.

In jeder Episode versuchen Eltern, Polizisten und Psychologen zu verstehen – und stoßen angesichts jugendlicher Mikrokosmen, von denen sie nichts ahnten, allesamt an ihre Grenzen. Die Dramaturgie ist dabei so klar wie schlüssig. Die erste Folge schildert den Schock der Familie, als eine Polizeieinheit ihr kleines Haus stürmt und den 13-jährigen Sohn verhaftet. Die Nüchternheit der Justiz bildet einen scharfen Kontrast zur Orientierungslosigkeit der Eltern, die angesichts der Situation dennoch die Fassung bewahren. Die zweite Folge zeigt im Rahmen der Polizeirecherchen das schulische Milieu von Täter und Opfer, die Teenagercliquen und die Hilflosigkeit der Lehrkräfte. Die aufwühlend intensiv gespielte dritte Folge widmet sich der Psychologie des Täters aus der Sicht einer jungen Gutachterin, die am Ende des Gesprächs hilflos und um Fassung ringend zurückbleibt. Die abschließende vierte Folge begleitet die Familie des Täters, Monate nach der Verhaftung, in Erwartung der Gerichtsverhandlung, auf der Suche nach einer »Normalität«, die das Umfeld ihnen jedoch nicht gewährt. Hilflosigkeit und das Ringen um Fassung sind auch hier zentrale Themen.

Eine bedeutende Rolle spielen dabei die Väter, sowohl der Vater des Täters, als auch ein mit dem Fall betrauter Kriminalbeamter, dessen Sohn dieselbe Schule besucht. In einer Schlüsselszene macht dieser Junge seinem Vater, der im Zentrum der zweiten Folge steht, deutlich, wie wenig er von der grausamen Welt der jugendlichen Hierarchien begreift – was in dem Moment Jungen wie Mädchen gleichermaßen meint, auch das ein kluges Detail.

Die erste und die vierte Folge wiederum gehören dem von Stephen Graham herausragend gespielten Vater des Täters. Seine Schuldgefühle, weil er womöglich zu wenig präsent oder dem Sohn ein falsches Vorbild war, spiegeln eine tiefe männliche Verunsicherung – vielleicht das eigentliche Thema der Serie. Zu einem griffigen Schluss kommt die Geschichte klugerweise nicht. Ihr Mitgefühl gilt den Menschen, die mit einer solchen Tat umgehen müssen. Was »Adolescence« so herausragend macht, ist die Sensibilität, keine Schuldzuweisungen zu verteilen, aber niemanden aus seiner Verantwortung zu entlassen.

OV-Trailer

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