Disney+: »Daredevil: Born Again«
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Wer mag schon Vigilanten. Das Wort bezeichnet eine traditionell oft faschistoide »Bürgerwehr« – demokratisch nicht legitimierte Menschen, die das Recht selbst in die Hand nehmen wollen. Diese »Privatpolizei« ist Wilson Fisk (Vincent D'Onofrio), dem neuen Bürgermeister von New York, ein Dorn im Auge.
Denn wenn jemand die Stadt drangsaliert, dann doch bitte er selbst: Fisks Alter Ego, das wissen Fans der drei zwischen 2015 und 2018 entstandenen Staffeln »Marvel's Daredevil« oder der Original-Comics, ist der »Kingpin« – ein brutaler Unterweltboss, Mastermind des organisierten Verbrechens. Dass er keine Maske trägt, sondern seinen bösen Willen mit auf den kolossalen Leib geschneiderten Maßanzügen zu vertuschen versucht, ist demnach nur das Um-den-Finger-Wickeln der öffentlichen Meinung: Fisk braucht das Wohlwollen der Stadtbewohner:innen, um im Verborgenen seine grausamen Spiele zu treiben.
Seine Nemesis, der maskentragende blinde »Daredevil« (Charlie Cox), hat zwar trotz und wegen seines Handicaps außergewöhnliche körperliche Fähigkeiten – früher hätte man ihn einen Superhelden genannt. Doch auch das neueste Comic-Spin-off »Daredevil: Born again« spielt wieder mit Daredevils Kernkonflikt: Was ist der Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen einem Superhelden – und einem selbstherrlichen Rächer mit Maske?
Daredevil, der als Rechtsanwalt Matt Murdoch (maskenlos) eine erfolgreiche Kanzlei aufgebaut hat, versucht, das Böse mit der Kraft des Justizsystems zu schlagen. Keine leichte Sache: »Wir dienen hier nicht der Gerechtigkeit«, fasst er es irgendwann resigniert zusammen, »wir babysitten das Chaos.« Denn als Matts bester Freund Foggy (Elden Henson) ermordet wird, ein neuer, blutrünstiger Serienmörder namens »Muse« sein Unwesen zu treiben beginnt, Fisk eine »Schattenpolizei« aus Superschlägern zusammenstellt und auch noch Matts neue Freundin, Psychologin Heather (Margarita Levieva), in die Ziellinie gerät, ist es vorbei mit dem Burgfrieden. Daredevil lässt wieder die Fäuste fliegen – auch wenn ihm dabei die katholisch sozialisierte Seele brennt.
Die Zutaten dieser neuen Staffel über den moralischsten aller Marvel-Helden sind von hoher Qualität: Cox und D'Onofrio illustrieren durch überwältigendes Stimmenacting ihre charakterlichen Unterschiede – der stets ruhige und gefasste Ton Murdochs ist Balsam für die New Yorker:innen, Fisks mit Nachdruck aus dem massigen Körper gepresste Worte dagegen vermitteln Unbehagen. Wenn er den Namen seiner Geliebten Vanessa (Ayelet Zurer) herausbellt, stellen sich einem die Nackenhaare hoch. Und New York hat hier mehr als eine Kulissenrolle: An ihm erzählen die Showrunner nicht nur die Gentrifizierung, den Verfall von sozialen Strukturen und den Unmut einer im Stich gelassenen Bevölkerung, sondern inszenieren es symbolisch für den Staat.
Für wen die Fisk/Kingpin-Figur mit ihrem Self-Made-Anstrich steht, liegt also auf der Hand. Irgendwann filmt eine Reporterin den Mayor sogar dabei, wie er eigenhändig unvollendete Bauarbeiten wieder aufnimmt: »Ihr seht: Ich packe die Sachen an«, schmettert er in die Kamera. Mehr Donald Trump war selten in einer Comicfigur – galt der US-Präsident in den 80ern doch als New Yorks größter Stadterneuerer, Baulöwe und Problemlöser.
Doch vielleicht um nicht allzu politisch zu werden und es sich mit den Actionsfans nicht zu verscherzen, setzt auch »Daredevil: Born again« leider wieder auf zu viel Gewalt. Durch die elegante tänzerische Choreographie ästhetisieren die Prügelorgien die Grausamkeit, gleichzeitig wirkt die starke Inszenierung distanzierend: Wir befinden uns, das wird in solchen Szenen klar, noch immer im Comic. Was schade ist. Denn so kann Daredevil uns eben nicht im letzten Augenblick vor dem starken bösen Mann retten.
OV-Trailer
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