Venedig: Goldener Löwe für Dokumentarfilm

»All the Beauty and the Bloodshed« (2022)

»All the Beauty and the Bloodshed« (2022)

Das 79. Filmfestival von Venedig feierte sich als Renaissance für Stars und Glamour. Die Preisvergabe aber geriet überraschend politisch – und feministisch

Während des Festivals dominierten die Stars auf dem Roten Teppich und ihre Klatschgeschichten. Mit der Preisvergabe am Ende aber zeigte das 79. Filmfestival von Venedig einmal mehr, dass Kino immer auch politisch ist. Der Goldene Löwe ging – erst zum zweiten Mal nach Gianfranco Rosis »Sacro GRA« 2013 – an einen Dokumentarfilm. »All the Beauty and the Bloodshed« porträtiert ein lebenslanges politisches Engagement: die amerikanische Regisseurin Laura Poitras, 2015 für ihre Edward-Snowdon-Dokumentation »Citizenfour« mit dem Oscar ausgezeichnet, begleitet darin die renommierte Fotografin und Künstlerin Nan Goldin. Sie zeigt deren Aktionen gegen die Sackler-Familie, deren Pharmafirma sie mitverantwortlich für die Opioid-Krise in den USA macht.

Der Blick auf Goldin als Aktivistin öffnet sich im Lauf des Films zu einer bewegenden biografischen Erzählung, die die Geschichte des Umgang mit psychischen Krankheiten in den USA thematisiert. Politisch ist der Goldene Löwe für Poitras auch noch in einem anderen Sinn: Zum dritten Mal in Folge verlieh das Filmfestival Venedig, oft als das »älteste seiner Art« tituliert, damit seinen Hauptreis an eine Regisseurin. 2020 hatte ihn Chloe Zhao für »Nomadland« und 2021 Audrey Diwan für »Das Ereignis« erhalten.

In diesem Jahr ging auch der Grand Prix, in gewisser Weise die Silbermedaille, an eine Frau. Alice Diop, französische Filmemacherin mit senegalesischen Wurzeln, hatte mit ihrem Spielfilm-Erstling »Saint Omer« zuvor schon die Kritik am Lido begeistert. Ihr Film ließ sich inspirieren vom wahren Fall eines Kindesmords, bei dem eine hochintelligente und gebildete junge Frau mit migrantischer Herkunft ihr Kind ertränkt hatte. In »Saint Omer« stellt Diop nicht nur die Gerichtsverhandlung nach, sondern inszeniert mit einem autobiografisch angelehnten Alter ego einer den Prozess beobachtenden Buchautorin zugleich den Blick auf das Geschehen – und auf die rassistischen Vorurteile, die wie nebenbei zutage treten. In strenger, sparsamer Ästhetik leistet der Film eine subtile Beschreibung aktueller Problemlagen.

Im geschlechterpolitischen Sinn hochaktuell zeigte sich auch Todd Fields Film »Tár«, in dem Cate Blanchett eine fiktive, erfolgsverwöhnte Dirigentin der Berliner Philharmoniker spielt, deren Machtgebaren ihr den baldigen Niedergang beschert. Für die Darstellung einer eigenwilligen, ehrgeizigen Frau, die es an die Spitze geschafft hat, aber über persönliche Schwächen stolpert, erhielt Blanchett nun die Coppa Volpi, den Preis für die beste Schauspielerin. Es ist die zweite »Coppa« für die australische Schauspielerin, die vor 15 Jahren am Lido für ihre Rolle als Bob Dylan in »I'm Not There« von Todd Haynes ausgezeichnet worden war.

Im Unterschied zu anderen Jahren, in denen die Preise möglichst weit gestreut wurden, konzentrierte die Jury unter dem Vorsitz der amerikanischen Schauspielerin Julianne Moore ihr Lob auf einige wenige Filme, die dafür doppelt bedacht wurden: Der britisch-irische Regisseur Martin McDonagh bekam für seine schwarze Provinzkomödie »The Banshees of Inisherin« den Silbernen Löwen fürs beste Drehbuch – wie schon 2017 für seinen »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« –, während sein Hauptdarsteller Colin Farrell als bester männlicher Darsteller geehrt wurde. Das traurig-skurrile Porträt einer zerbrechenden Männerfreundschaft auf einer verlorenen irischen Insel 1923 war einer der großen Favoritenfilme des Festivals.

Ähnliches gilt auch für den romantischen Horrorfilm »Bones and All« von Luca Guadagnino. Der in Italien sehr populäre Guadagnino erhielt den Silbernen Löwen als bester Regisseur und Taylor Russell, die im Film das Coming-of-Age einer jungen Kannibalin darstellt, konnte ihren ungleich bekannteren Ko-Star Timothée Chalamet ausstechen und wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als bestes junges Talent ausgezeichnet.

Als klares Zeichen der Solidarität und Unterstützung verlieh die Jury ihren Spezialpreis an den iranischen Regisseur Jafar Panahi, der in seiner Heimat inhaftiert wurde. Wie schon seine letzten Filme ist auch sein »No Bears« betitelter jüngster Film klandestin gedreht worden. In zwei überlappenden Handlungssträngen erzählt Panahi darin von unglücklichen Liebespaaren und ihrer repressiven Umgebung. Mit dokumentarischer Anmutung und einfachsten Mitteln gelingt es Panahi, von den verheerenden Auswirkungen der Unterdrückung auf den Einzelnen zu erzählen. Selten hat man den Spruch vom Privaten, das politisch ist, so effektiv – und pessimistisch – ausgelegt gesehen.

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