Kritik zu Das Ereignis

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Als Audrey Diwans zweite Regiearbeit in Venedig den Goldenen Löwen gewann, erschien mit 20 Jahren Verspätung die deutsche Übersetzung des Romans von Annie Ernaux, auf dem sie beruht. Ein triftiges Zusammentreffen, denn Diwans Adaption führt sensibel und bravourös dessen zeitlose Aktualität vor Augen

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Anne kleidet sich vorwiegend in hellem Blau. Vielleicht weiß sie einfach, dass die Farbe ihr steht, oder sie mag ihre Signalwirkung. Ihre Kleidung strahlt eine Klarheit aus, die nicht kühl anmutet, aber von ruhiger Entschlossenheit kündet. Die Auswahl, die in ihrem Kleiderschrank im Studentenwohnheim hängt, ist nicht groß: Anne (Anamaria Vartolomei) stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie ist die Erste in ihrer Familie, die auf die Universität geht. Seit einiger Zeit begutachtet sie regelmäßig im Spiegel ihren Bauch, der bald nicht mehr in ihre Kleidung passen wird. Sie erwartet ein Kind, das sie nicht will. Auf das, was ihr bevorsteht, ist ihr Körper nicht vorbereitet.

Ihrer Kleidung merkt man auf Anhieb nicht an, dass Annes Geschichte in den frühen 1960er Jahren spielt: Audrey Diwan beschwört das Kolorit der Epoche ohne szenischen Nachdruck. Wichtiger ist ihr, die herrschende Mentalität einzufangen. Literatur gilt noch als »Mädchenstudium«. Den Ruf, eine »Schlampe« zu sein, kann sich eine lebenslustige Frau auch ohne eigenes Zutun erwerben. Und eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet, wie eine Studienfreundin Annes sagt, das Ende der Welt. Der Abbruch wird in Frankreich noch bis 1975 illegal sein. Nachdem ihr Versuch mit einer Stricknadel scheitert, bleibt Anne nur noch der Ausweg, zu einer Engelmacherin zu gehen.

Denn ihr Entschluss steht fest, sie wird keinen Moment von ihm abweichen. Anne ist eine hervorragende Studentin; ihre Zukunft will sie nicht aufgeben. Ihr Geheimnis kann sie ihren Eltern nicht anvertrauen, auch bei Gleichaltrigen ist es nicht gut aufgehoben. Zuerst offenbart sie es einem Freund, der alsbald von ihrer Situation profitieren will. Ihre Kommilitoninnen gehen sofort auf Abstand. Der Kindsvater, eine flüchtige Bekanntschaft, spielt nur marginal eine Rolle. Er lebt anderswo, ist kein Scheusal, aber in der Not wäre auf ihn kein Verlass. Annie Ernaux hat ihren autobiografischen Roman auch geschrieben, um das Schweigen zu brechen, das die Gesellschaft über sie und ihre Schicksalsgenossinnen jahrzehntelang verhängt hat.

Diwan und ihre Co-Autorin haben die Vorlage achtsam adaptiert und ein Äquivalent zu dessen Tagebuchform gefunden, indem sie die Handlung mit der Einblendung der Schwangerschaftswochen strukturieren. Am Ende steht ein Datum: der 5. Juli, an dem die Abschlussprüfungen stattfinden. Bis dahin zeigt sich Diwan als eine empfindsame Begleiterin, die nicht von der Seite ihrer Heldin weicht. Sie sucht die unmittelbare Nähe, folgt Anne (zumal ihrem Nacken) in langen Kamerabewegungen, bei denen sich die Schärfe behänd verlagert, aber der Fokus unverbrüchlich auf der Protagonistin bleibt. Diwans Wahl des klassischen Normalformats, dessen Seitenverhältnis von 3:4 zur Handlungszeit des Films längst unüblich war, verblüfft. Aber es eignet sich hervorragend, um ein Porträt zu zeichnen.

Anne hält den Blicken stand, die ihre Umgebung auf sie richtet, und wirft se wachsam zurück. Diwan umgibt Anamaria Vartolomei mit einem exzellenten Ensemble von JungdarstellerInnen, deren Stil sacht kollidiert mit dem von VeteranInnen aus einer anderen Kinogeneration: Sandrine Bonnaire verleiht der Mutter eine helle, später besorgte und strenge Präsenz; Anna Mouglalis spielt die Engelmacherin mit kellertiefer, verrauchter Stimme und beruhigender Sachlichkeit; Pio MarmaÏ ist einnehmend als Professor, den es enttäuscht und zornig macht, dass seine beste Studentin plötzlich Antrieb und Konzentration verloren hat. Es ist ein Parcours schrecklicher Anfechtungen, den Anne bewältigen muss. Diwan schildert ihn mit einer Nüchternheit und Präzision, die der Einfühlung nicht im Weg stehen. Sie ist wohlverdient. Der Suspense, den »Das Ereignis« langsam aufbaut, beruht auf keiner erzählerischen Mechanik, sondern einem Grundimpuls des Kinos: der Bereitschaft, mit einer Figur zu bangen und zu hoffen.

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