Venedig: Menschenfresser-Romanze

»Bones and All« (2022). © Warner Bros. Pictures

»Bones and All« (2022). © Warner Bros. Pictures

Gibt es eigentlich schon eine Popkulturgeschichte abgebissener Finger im Film? Falls ja, müsste dieser Geschichte mit Luca Guadagninos Wettbewerbsbeitrag »Bones and All« ein neues Kapitel hinzugefügt werden. Man wundert sich zunächst, wieso Maren von ihrem eigentlich nett wirkenden Vater zum Schlafen in ihrem Zimmer eingesperrt wird, bis, ja bis sich das schüchterne Mädchen für eine Übernachtungsfeier bei einer Schulkameradin herausschmuggelt und besagter Gastgeberin, als die ihr den frischen Nagellack zeigt, das Fleisch von den Knochen nagt.

Das ist einer von nicht wenigen verstörenden Momenten in diesem Film, der im Ansatz an Julia Ducournaus Debüt »Raw« erinnern mag. Dort wie hier brachte ein abgekauter Finger eine Art, wenn man so will, kannibalisches Coming of Age in Gang. Aber Guadagninos in Amerika gedrehter Film erzählt eine andere Geschichte: eine Geschichte über gesellschaftliche Außenseiter im Reagan-Amerika der 1980er Jahre, einen queer angehauchten, Bonny-und-Clydesken Roadtrip mit einer jungen Liebe to the Bones and all.

Wie in seiner großartigen Serie »We Are Who We Are« oder seinem zum Evergreen des queeren Kinos avancierten »Call me by your Name« versteht es der Italiener, sich mit großer Liebe in die Erfahrungswelten seiner jungen Figuren einzufühlen, ihre Ängste und Hoffnungen in für ihn typische vollmundige Bilder und Musik (Duo Infernale: Trent Reznor, Atticus Ross) zu kleiden. Man ist von der ersten Sekunde an bei Maren, gespielt von der großartigen Taylor Russel, die, wie schon in Trey Edward Shults »Waves«, einen Teenager im Neuorientierungsmodus gibt. Neu, weil der Vater keine Kraft mehr hat, mit der Fleischeslust der Tochter umzugehen und sie verlässt. Maren macht sich ihrerseits auf die Suche nach ihrer Mutter, die sie nie kennengelernt hat.

Damit beginnt eine Reise um die Frage: Wie mit der Andersartigkeit umgehen? Eine wichtige Erkenntnis für Maren: sie ist nicht alleine. Der von Marc Rylance gespielte Freak mit Weste und Hut samt Feder erschnüffelt das Mädchen buchstäblich über Meilen hinweg. Um nicht zu töten, macht er, wie er ihr zeigt, sterbende Menschen ausfindig und wartet, bis das Unausweichliche eintritt. Mit dem lässigen Drifter Lee (wie immer einnehmend: Timothée Chalamet) trifft Maren schließlich einen Seelengefährten, mit dem es durch die Staaten geht auf der Suche nach sich selbst und der eigenen Vergangenheit. 

Guadagnino adaptiert Camille DeAngelis gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2015 als emotionale Tour de Force, in der sich Menschenfresserei, Liebe und Tod die Klinke in die Hand geben, ja: enger miteinander verbunden sind, als man es für möglich halten würde. Ohne scheu auch vor den großen Emotionen findet dieser mit klassischen Motiven des amerikanischen Kinos jonglierende Film einen ganz eigenen Rhythmus voll flirrender Bilder.

»Bones and All« ist ein bisheriges Highlight im Wettbewerb auf dem Lido. Und wer den Wirbel um die Premiere herum erlebt hat, muss in diesen schweren Zeiten für die Kinos einfach an dessen nach wie vor ungebrochene Macht glauben. Tausende Menschen, jung wie alt, warteten am roten Teppich, die ganz hart Gesottenen seit morgens um 7:30 Uhr, um ihre Stars zu sehen, allen voran Chalamet, der auch in diesem Film seinen Ruf als Gesicht einer neuen Männlichkeit untermauert. 

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