Kritik zu Nomadland

© Walt Disney

»Wir sehen uns auf der Straße«: Chloé Zhaos Film erzählt sozial geerdet, aber in den Panoramabildern des Westerns von Amerikanern, die sich an ein Leben im Campingbus gewöhnt haben – Nomaden der Arbeit 

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Viel Platz ist nicht im Van von Fern. Es ist ein eher kleiner Transporter, mit dem sie durch die Gegend fährt, zweckmäßig eingerichtet, durchaus wohnlich, aber eng. Aber er ist ihr Zuhause, sie fährt mit ihm von Campground zu Campground, von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte. Sie sagt einmal, sie sei houseless, nicht homeless, denn ein Dach über dem Kopf hat sie allemal. 

Und mehr als ihren Campingvan besitzt sie auch nicht mehr, seit sie nach dem Tod ihres Mannes ihr Haus in Empire, Nevada, verlassen hat und den Westen der USA durchkreuzt. Die Gips-Mine hatte zu Beginn der zehner Jahre im Zuge der weltweiten Rezession geschlossen und der kleine Ort sich aufgelöst. Diesen Ort hat es wirklich gegeben; er ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich Fakt und Fiktion vermischen in »Nomadland«, der ja nach einem Sachbuch entstand, Jessica Bruders »Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 20. Jahrhundert«. 

© 20th Century Studios / Walt Disney

Fern reist nicht durch die Gegend, wie es die Traveler tun; sie fährt herum, um zu arbeiten. In der Weihnachtszeit jobbt sie in einem Amazon-Versandcenter, sie hilft bei der Rübenernte aus, schrubbt die Toiletten eines Campingplatzes und putzt die Küche einer Hamburger-Braterei. Vielleicht bildet die Darstellung einfacher, arbeitender Menschen die Königsdisziplin der Schauspielkunst, und Frances McDormand als Fern meistert sie bravourös. Übrigens auch David Strathairn als Dave, den Fern auf einem Campground kennenlernt und der sich zu so etwas wie einem Freund und ein bisschen mehr entwickelt. McDormand und Strathairn sind die einzigen professionellen Schauspieler in diesem Film, die anderen hat die chinesischstämmige Regisseurin Chloé Zhao mit ihrem kleinen Team unter den »Nomaden der Arbeit« gecastet. 

Und deren lockere Gemeinschaft beschwört auch ihr Film, etwa als Fern das Rubber Tramp Rendezvous in Quartzsite besucht, das größte Treffen der Nomaden, im Januar, inmitten der Wüste von Arizona, vor dem Hintergrund spektakulär abweisend wirkender Bergformationen. Auch das gibt es wirklich, gegründet hat es Bob Wells 2010, und er spricht auch in »Nomadland« am Lagerfeuer. Dieses Jahr fand das RTR übrigens virtuell statt, mit Seminaren, wie man sich unterwegs helfen kann. Auch wenn wir wissen, dass der Beginn von Ferns Nomadenleben nicht freiwillig war, so wirft der Film doch keinen mitleidigen Blick auf seine Haupt- und Nebenfiguren. In ihnen kondensiert sich auch der uramerikanische Mythos vom Unterwegssein, vom Leben on the road. Zweimal wird sich Fern in festen Häusern aufhalten, einmal bei ihrer Schwester, die finanziell aushelfen muss, als der Van kaputt geht, und einmal, als sie Dave besucht, der zu seiner Familie zurückgekehrt ist. Und immer wird sie das Weite suchen, weil sie merkt, dass das nicht mehr ihr Leben ist. Die subtile Inszenierung von Ferns Fremdheit in der Welt der Normalos gehört zu den großen Kunststücken dieses Films.

© 20th Century Studios / Walt Disney

Dazu gehören aber auch die spektakulären Landschaftspanoramen, die Kameramann Joshua James Richards im Westen aufgenommen hat, und die im Kontrast stehen zu der Enge in Ferns Van. Gedreht wurde in Nebraska, Kalifornien, South Dakota, Arizona und Nevada, und manchmal ertappt man sich beim Gedanken, ein Siedlertreck könnte aus der Tiefe des Raums auf einen zu kommen. »Nomadland« hat auch etwas von einem Western, wenn auch ohne Colts.

In seiner sozialen Grundierung erinnert der Film an John Steinbecks Roman »Früchte des Zorns«, den John Ford 1940 kongenial mit Henry Fonda verfilmt hat. Auch Fords Film spielt nach einer wirtschaftlichen Depression, die Ende der 20er Jahre begann und ein riesiges Heer an Arbeitslosen schuf. Aber der Gestus der politischen Auflehnung und des Zorns gegen die Verhältnisse fehlt in »Nomadland« weitgehend. Man kann das gegen den Film einwenden – aber vielleicht ist es auch nicht seine Perspektive. Denn vielleicht ist der amerikanische Traum vom Wohlstand und der Gerechtigkeit für alle für die Menschen in »Nomadland« schon lange zerbrochen.

Meinung zum Thema

Kommentare

Leserbrief zur Rezension von NOMADLAND

Kein Zweifel: Frances MacDormands schauspielerische Leistung ist grandios. Die Nahaufnahmen ihres Gesichts, ihre Mimik und Gestik vemitteln mit großer Intensität die Gemütszustände der Protagonisten. Kamera und Regie geben dafür viel Raum und dadurch wird alles sehr glaubwürdig. Der Zuschauer versetzt sich schnell in die Rolle der Fern (sinniger Name).
Aber es ist nicht ein „Schicksal“, dass ihr passiert. Der Verlust von Arbeitsplatz und Dach über dem Kopf und die fehlende soziale Absicherung sind Ergebnis eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, das menschengemacht ist. Wer nicht mehr gebraucht wird ist draußen. Die Antwort des Films darauf: Man kann trotzdem glücklich werden. Wenn man sicht fügt und den allüberall guten Menschen vertraut. Schlechte Menschen scheint es in dieser Welt der Nomaden in den USA übrigens gar nicht zu geben. Keine Gewalt, keine Unfreundlichkeit, keine Verachtung und Häme der Arrivierten. Scheint ja alles, was wir bisweilen von diesem Land hörten und sahen – etwa in Wim Wenders „land of plenty“ - nicht oder nicht mehr zu stimmen. Alles halb so schlimm. Dran gewöhnen und dieses Leben beizeiten annehmen. So geht`s
Die große Tapferkeit von Fern und die Focusserung auf ihre individuelle Geschichte vermittelt unter diesen Umstände letztendlich die Botschaft: Füge dich in die (neoliberalen)Verhältnisse; es liegt an dir, das Beste daraus zu machen und zufrieden zu sein. Eine feine Schönfärberei für die Realität in „gods own country“.

Nachbemerkung:
Brechts war gegen das dramatische Theater, weil es den Zuschauer schnell dazu bringt, sich in die Rolle der Protagonisten zu versetzen und die Ursachen von deren schwieriger Lage nicht zu sehen. Sowas ähnliches passiert auch in „Nomadland“.

Heinz Balzer, Berlin, hb
alzer@posteo.de

Der Film ist am besten auf einer großen Leinwand zu sehen. Die Landschaft, die Stimmung, die Weite des Landes, die Schönheit der Natur. - Und dann die Verlorenheit, die Isoliertheit, das Getriebensein immer wieder, das sich nicht einlassen können der Hauptfigur. In jeder vorgestellten Lebensgeschichte der Charaktere finden sich entweder Extreme, Versagen, eigenes und von außen und nicht bewältigte Brüche. Der Kapitalismus ohne Erbarmen bei Armut und Krankheit, das Arbeiten bis es krankheitsbedingt kaum mehr geht in den Staaten wird von Bob Wells angesprochen. Die große Freiheit auf Basis des pursuit of happiness wird hier m.E. nach nicht dargestellt, der Film bewegt sich nicht im Schönen, leichten Bereich. - Ergänzend kann auf das Leben in einer Wohnwagensiedlung hingewiesen werden- anderes bleibt den Ärmsten in dieser Gesellschaft nicht. Abgesehen von der Homelessness. - Bei einem Standard von Social Security and Disability von $ 1.500 a month ist ein Nomadenleben im Van aber möglich.

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