Der leutselige Macho

Neun Figuren-Entwürfe des Götz George

"Der Kerl ist wichtiger als seine Filme", so begann Georg Seeßlen sein Götz-George-Porträt in epd Film 4/87. Heute ist der "Kerl" immer noch wichtig, aber auch sein filmisches "uvre hat inzwischen großes Gewicht. George ist einer der populärsten und zugleich experimentierfreudigsten deutschen Kino- und
Fernsehschauspieler, neun seiner großen Rollen analysiert Norbert Grob in seinem Essay. Ein Interview mit George von Marli Feldvoß anlässlich der
Totmacher-Premiere in Venedig brachten wir in epd Film 12/95. Wer eine vollständige Filmografie aller Kino- und TV-Rollen sucht, wird in Heiko R. Blums Buch über Götz George in Heynes Filmbibliothek fündig. Aus Blums Buch stammt auch das George-Zitat über Frank Beyer, die übrigen George-Äußerungen des folgenden Textes sind einem Interview in der "Süddeutschen Zeitung" vom 15.9.1999 entnommen.



"Man (sollte) versuchen, nur noch das anzunehmen,

wovon man wirklich glaubt, dass es einem Spaß macht

und dass man es körperlich und seelisch noch verkraften kann.

Ich habe mir keine Aufgabe im Leben leicht gemacht.

Wenn ich mich für eine Arbeit entschieden habe,

dann habe ich diese Arbeit auch gemacht

und bin niemals dem Hang verfallen, drei Sachen auf einmal

zu machen."                                Götz George



Die Anfänge: Kirmes und wilde Cowboys

Zu Beginn war alles ganz anders: kühner der Traum, radikaler der Entwurf, gewagter auch die zurückhaltende Präsenz, die ganz dem beiläufigen Blick, der
Geste en passant vertraute. Götz George in Wolfgang Staudtes Kirmes (1960), einer Bestandsaufnahme der Ereignisse im März/April 1945 als Bericht über
alltägliches Verhalten, als Serie von Einblicken in das Abnorme des Normalen, von Ansichten zu Menschen in Situationen, die sie nicht zu bewältigen
vermögen. Auch ein Film der suggestiven Nachfrage, der forschenden, reflexiven Erkundung: dem "wichtigsten, anständigsten deutschen Zeitfilm, der sich offen der Vergangenheit stellt" - wie Hans-Dieter Roos nach dem Kinostart urteilte (in der SZ v. 5.8.1960). GG spielt einen jungen Soldaten, der desertiert, weil er die Gewalt in den letzten Kriegstagen nicht länger erträgt. Er flieht in sein Heimatdorf, verbirgt sich im Keller seines Elternhauses. Worüber ein Wirrwarr der Gefühle sichtbar wird.
Ganz sanft wirkt er da, bei all seinem Zorn, betont zurückgenommen, bei all der Klage, all seinem Unglück - und offenbart so im Gegenüber die wichtige Nuance: die Schwäche des Vaters, das Besorgte, aber Unerschrockene der Mutter, die Solidarität des Pfarrers, das Rechtschaffene des Gastwirts, der aber zum Verrat bereit wäre, käme er selbst in Gefahr, das Nazi-Fanatische der Schwägerin - und das Übereifrige des Ortsgruppenleiters, der sich mit der Lehrerin
einlässt, weil es doch ganz einfach sein müsse, über die Kinder herauszufinden, wie es um die Gesinnung der Eltern stehe. Einem Fächer gleich stehen dem Jungen die Figuren gegenüber, die Schuld der Unschuldigen erhält zusätzliche Nuancen, je weiter er ihn aufschlägt.

GG arbeitet hier noch mit reduzierten Mitteln. Er schreit, weint und winselt, sehr expressiv - und findet doch zur rechten Zeit zurück zu kargem Ausdruck.

Ein ganz anderer GG, als Kontrast zum Panorama des Schreckens zuvor: der kurze Moment, wo der Krieg vorüber zu sein scheint, der Augenblick zwischen den Zeiten (nach der höchsten Gefahr und vor der endgültigen Freiheit). Die Nazis geflohen, das Dorf verlassen, der Junge gerettet - was GG zu einem Taumel purer Lebenslust gestaltet. Voller Freude reißt er - mit der jungen Französin, die ihn zunächst verwirrte, dann verwöhnte - die letzten Propagandazettel von den
Wänden. Die ankommenden, amerikanischen Panzer verheißen ein neues Leben. Dann aber ziehen die in eine ganz andere Richtung; und die alten Parteigänger kehren zurück. Ekstatische Hoffnung schlägt um in fassungslose Ernüchterung.

GG, zuvor u.a. schon in Jugerts Ihre grosse Prüfung (1954), Weidenmanns Solange das Herz schlägt (1958) und Liebeneiners Jacqueline (1959) zu sehen, zeigt in Kirmes die erste seiner neun großen Kinofiguren: die des aufbegehrenden Teenagers, der nichts weiter will, als einfach zu leben und dafür ein wenig
Hilfe benötigt. Ein verängstigter Junge bloß, aber zur Rebellion gezwungen angesichts all der Verzweiflung und Angst, der Ignoranz und Feigheit, des Verrats und der Schuld. GG gibt den roten Faden vor, der alles zu einem offenen Mosaik aus pointierten Fragmenten bündelt. Er ist positiver Held und agent provocateur zugleich - der narrative Spielführer zu jener "Vergangenheit, die (...) einem ruhelosen Gespenst (gleicht), das durch unsere Tage und Träume irrt
und, nach uraltem Geisterbrauch, darauf wartet, dass wir es anblicken, anreden und anhören." (Erich Kästner in "Notabene 45, Ein Tagebuch") .
Ganz nüchtern sind die letzten Tage der Naziherrschaft in Deutschland betont, nichts wirkt moralisiert, alles bloß konstatiert, als Folge ungewollter Vergehen, Untaten, Verbrechen dargestellt: als offene Wunden, die zu einem falschen, verlogenen Leben zwingen. Der Pfarrer zur Mutter, zwölf Jahre danach:
"Jetzt lassen Sie doch endlich die schreckliche Vergangenheit ruhen!" Ihre Antwort: "Sie ruht aber nicht!"

Er sei, so GG in einem Interview, seit seinem elften Lebensjahr Schauspieler, und bis zu seinem achten Lebensjahr sei er von seinen Eltern und danach nur noch von seiner "wunderbaren Mutter Berta Drews zu Tugenden erzogen worden, die Demut und Bescheidenheit heißen." Der große Stinkstiefel, den einige in ihm sehen wollten, weil sie ihn nicht kennen, sei er nicht.

Aber, auch das hat bei ihm große Tradition, er bestand von Beginn auf Mitsprache, an Teilnahme bei der Konzeption seiner Rollen - und er hatte, ob es da um Staudte ging, der für ihn "ein Gott" war, oder um William Dieterle, der zuvor in Hollywood für die Warner Bros. immerhin mit Paul Muni und Charles Laughton gearbeitet hatte, keinen Respekt vor großen Namen. Anfang der sechziger Jahre arbeitete er für Dieterle (Die Fastnachtsbeichte) und Helmuth Ashley  Mörderspiel), für Alfred Vohrer (Unser Haus in Kamerun; Wartezimmer zum Jenseits), Paul Verhoeven (Ihr schönster Tag) und Jürgen Goslar (Das Mädchen und der Staatsanwalt), Kurt Hoffmann (Liebe will gelernt sein), Edwin Zbonek (Mensch und Bestie) und nochmals für Staudte (Herrenpartie). Und zwischendurch spielte er immer wieder mal den wilden Cowboy.

Vor seinem ersten Karl-May-Film habe er sich lange "gegen diesen Simpelkram" gesträubt, dann aber schnell festgestellt, dass es "gar kein Simpelkram"
geworden sei. Es habe "ungeheuren Spaß gemacht", und er selbst habe "bei der Gelegenheit nebenbei" noch seine "verlorene Jugend nachgeholt und den Cowboy gespielt."

In Harald Reinls Schatz im Silbersee (1962) springt er anfangs auf die Pferde einer Postkutsche, die ohne Führer durch die Stadt traben. Dass die Pferde,
kurz bevor er springt, beinahe schon zum Halten gekommen sind, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Aktion allein genügt. Und die Präsenz des burschikosen Helden, der sich voller Tatkraft den Herausforderungen stellt.
Kurz danach greift er, ohne lange zu überlegen, in freier Landschaft einen Mann an, in dem er den Mörder seines Vaters vermutet. Der schießt ihm die Waffe aus der Hand, schlägt ihn mit einem Hieb nieder und erteilt ihm dabei den Rat, er solle sich doch zunächst einmal die Menschen anschauen, auf die er schieße. Das zeigt die eine Seite dieses kecken Helden: die des unbekümmerten Heißsporns, der handelt, bevor er zu denken beginnt. Das Burschikose und das Unbekümmerte sind Anfang der sechziger Jahre sein Markenzeichen, das er nach und nach zwar abmindern, aber nie ganz aufgeben wird.

Die zweite Seite, die GG bis in seine Schimanski-Zeit erhalten bleibt: die Lust am Artistischen. In Reinls Westernkomödie beweist er dann, als er schließlich
dem wahren Mörder gegenübersteht, viel Sinn für Akrobatik und Sportsgeist. Im roten Hemd über der blauen Hose tritt er zum Kampf an, nur mit dem Messer in der Hand. Er wirft sich auf seinen Gegner, fliegt im Salto über ihn hinweg, springt mal nach rechts, mal nach links, lässt die Fäuste fliegen und das
Messer kreisen und schmeißt sich am Ende, als ein feindlicher Kumpan des Mörders hinzu kommt, im hohen Bogen in eine Hecke, die ihm hinter einer kleinen Steinmauer Schutz bietet.



Aus einem deutschen Leben und weitere Monsterrollen

Die siebziger Jahre bedeuteten für GG dann, neben der Schauspielerei fürs Theater, Fließbandarbeit fürs Fernsehen. "Tatorte", "Kommissare", "Diamantendetektiv Dick Donald", und als Tom Hartmann stets "Zwischen den Flügen".

Und dann, wie ein Wunder, plötzlich die zweite seiner großen Kinofiguren: die des Monsters mit Beamtengehabe, in Theodor Kotullas Aus einem deutschen Leben (1977). Da ist überraschend vieles wieder da, was zuvor allein in den Staudte-Filmen zu sehen war: Engagement und Fantasie, Präzision und
Zurückhaltung.

GG spielt den KZ-Kommandanten von Auschwitz als wohlerzogenen Mann von Anstand und Kultur, Gesetz und Ordnung. Als korrekten Untertanen, der seine Pflichten hat, denen er ohne Eifer und Nachdruck, aber mit Einsatz nachkommt. "Ein Soldat hat zu gehorchen." Er sei nicht verantwortlich für das, was da geschehe, bekennt er einmal gegenüber seiner Frau. "Es ist mir unmöglich, einem Befehl nicht zu gehorchen. Es ist mir physisch unmöglich."

Zuvor schon, Ende der zehner Jahre, als Arbeiter in einer Fabrik, sieht man ihn als übereifrigen Fanatiker, der jede lohntaktische Maßnahme als Sabotage
empfindet, jede Rücksichtnahme auf die Kollegen als besondere Form der Arbeitsverweigerung. Starr in der Mimik, bullig in der Physik, so gibt GG dieser
trotzigen Haltung Kontur. Kurz darauf trägt er Uniform, und sein Helm ist mit einem dick ausgemalten Hakenkreuz geschmückt. Ein Freikorpsler nun, 1920.

Dann, nach Auflösung der Freikorps: Hilfsarbeiter auf dem Bau, dem Selbstmord nahe; verzweifelter Nationalist, den schließlich eine einzige Sorge aufweckt:
"Was wird aus Deutschland?" Schließlich: Mitglied der SA, 1922 bereits. Immer glatter wirkt sein Körper. GG als jugendlicher Eiferer, ohne Ecken und Kanten.
"Der Führer erwartet von Dir unbedingte Hingabe!" - "Jawohl, Herr Obersturmbannführer."

Kotulla hat seinen Protagonisten ganz bewusst in die Tradition des "faschistischen Charakters" gestellt, der sich dadurch auszeichne, "dass er autoritätsgebunden lebt und reagiert. Er ist innerlich unfrei (äußerlich ohnehin) und befindet sich in totaler Abhängigkeit von einem ihm monumental
erscheinenden Über-Ich. Sein eigenes Ich ist zusammengeschrumpft unter dem Image des übermächtigen Führers" (Kotulla in Prinzler/Rentschler,
"Augenzeugen").

GG gibt den Täter als Unschuldslamm. Seine strammen Gesten, seine ganzen forschen Bewegungen drücken aus, wie sehr sein "Franz Lang" in Einklang steht mit dem, was er denkt und tut. Immer wieder liegen seine Hände an der Hosennaht, wenn er mit Männern redet, die er bewundert. Er schlüpft geradezu
in die Untertanenrolle, die ihn befähigt, nach und nach, die stellvertretende Rolle seiner übermächtigen "Führer" auszufüllen. "Sie müssen begreifen, dass ein SS-Mann bereit zu sein hat, seine eigene Mutter hinzurichten, wenn ihm der Befehl dazu gegeben wird."

Allein in dem Moment, wo dann seine Hochzeit arrangiert wird mit einer Frau, die er bisher nur aus Distanz zu bewundern wagte, fällt GG aus seiner Rolle heraus, gibt sich verlegen und ordnet schnell noch sein verschwitztes Haar. Überrascht wirkt er dabei, aber auch hoffnungsfroh.

Organisatorisch hoch begabt, seelisch höchst gewissenhaft, deshalb sei er ausgewählt. So nimmt GGs Franz Lang hin, dass er ausersehen ist, das
"Judenproblem" zu lösen. Kühl und effizient im Tun, pragmatisch in der Rede - so die Figur. Sparsam und verhalten das Agieren, knapp und knallig das Sprechen - so die Darstellung. GG als Funktionär des Todes, der immer nur seine Pflicht tut, ohne einen anderen Weg zu sehen. "Ich würde es wieder tun, wenn ich den Befehl dafür erhielte." Was er dabei empfinden würde? "Ich empfinde nichts Besonderes." Würde er also wieder seine Pflicht erfüllen, jederzeit? GGs Darstellung legt nahe, dass seinem Lang/Höss gar nichts anderes einfiele.

Eine "bürgerliche Figur wie Eichmann", so GG, einen "Oberlehrer" habe er "mit dem Lagerkommandanten Höss in Aus einem deutschen Leben dargestellt".

Eigentlich aber hat er diesem "Untertanen" die Kontur eines überängstigten Kleinbürgers gegeben, der "nicht so oder so sagt, weil man ihm hinterher
vorwerfen könnte, er habe so oder so gesagt" (Ernst Bloch).

Weitere Monsterrollen, die mit der Aura des Alltäglichen daherkommen: in Der Totmacher von Romuald Karmakar (1994) und in Nichts als die Wahrheit (1999) von Roland Suso Richter, die sechste und neunte seiner großen Kinofiguren.

Der Totmacher enthüllt die alltägliche Seite eines Massenmörders, der nach eigenen Angaben 17 junge Männer getötet und zerstückelt hat. GG spielt ihn mit minimaler Mimik, aber ausgeprägter Gestik. Am wichtigsten: die Blicke, mit denen er mal dem herrischen Gehabe des ihn untersuchenden und ausfragenden
Gutachters trotzt, mal zur Seite mit dem Stenografen flirtet, mal nach innen der eigenen Befindlichkeit nachsinnt.

Den Fragen des Psychiaters begegnet er oft mit geradezu spielerischer Verschmitztheit. An welchem Fluss Berlin liege? Ob es den Kaiser noch gebe? Was
eine Republik, was die Hanse sei? Warum Ostern gefeiert werde? Was den Unterschied ausmache zwischen Treppe und Leiter? "Die Leiter steht draußen, und man kommt aufs Dach, Treppen hat man im Haus!" Wobei seine Stimme die Antworten immer anders artikuliert und moduliert, mal flüstert er zögerlich, mal beschwört er Traumhaftes, mit verwunderlichem Unterton, mal hackt er die Worte wie Schüsse heraus, mal schreit er vor Empörung, mal dehnt er die Wort störrisch, um darauf zu beharren, wovon er gerade geredet hat, mal berichtet er ruhig und stolz von seinen Taten. Was er vom lieben Gott wisse? "Der ist im Himmel. Und wenn man tot ist, dann sind wir alle oben. Bei ihm. Und da haben wir's alle gut." Ob jeder in den Himmel komme? "Nein. Nur die Guten. Es gibt noch eine Hölle. Da ist der Teufel. Der hat Hörner und einen Pferdefuß. Aber gesehen hab' ich ihn noch nicht."

GG zeigt hier das Beispiel einer essayistischen Darstellungskunst: Er verkörpert und legt die Konstituenten dieser Verkörperung offen, er spielt und gewährt zugleich Einblick in die Bausteine seines Spiels. Er wisse, so der Psychiater, er sei kein Idiot. Die Antwort: "Das glaub' ich auch nicht." Dazu die Replik: Er glaube, dass er den Idioten markiere. "Ach was. Ach, Du lieber Gott!" Er glaube, er mache sich lustig über ihn. "Dann müssen Sie ja nicht mehr herkommen."

Die Haare stoppelig kurz, den Bart nicht ganz glatt rasiert, so dass die Gesichtslinien überhart hervortreten, um die Augen herum unzählige Fältchen, die Stirn voller Runzeln: GGs Outfit als signifikante Merkmale, die für Evidenz sorgen, also etwas vom Innersten nach außen kommen lassen. Das Bild eines infernalischen Alltagslebens, hinter dem gleichzeitig die trotzige Klage durchscheint.

In Nichts als die Wahrheit dagegen der Mut zur dicken Maske, die Körper und Gesicht, Bewegung und Geste unter ihre Dominanz zwingt. GG als Auschwitz-Arzt
Mengele, im Deutschland der neunziger Jahre: eine Gestalt aus dem Totenreich.

Nach dem Kommandanten Höss in den Siebzigern nun der Todesbote von Auschwitz. GG als greiser Fanatiker, der aller Welt noch einmal beweisen will, dass er im Grunde nur das Allerbeste wollte: denen, die sowieso dem Tode geweiht waren, die schnellste "Endlösung" zu bieten. So krude die Konstruktion insgesamt, so provokant (und gewagt) das Geschehen im Einzelnen.

Wie ein Wesen aus einer fernen Welt spielt GG das Nazi-Monster, dabei aber sehr selbstverständlich bekennend, wofür er persönlich verantwortlich war. Was
denn nun das KZ in Auschwitz gewesen sei? "Aber das weiß doch jeder. Auschwitz war ein Massenvernichtungslager für Juden!"

Das Berührende dieser Gestalt (und da stellen sich Richter und GG sehr bewusst in die Tradition des deutschen Kinos des Monströsen) liegt im Widerhall des Abgründigen nicht verschwiegener Taten. Nicht das Rätselhafte zählt, sondern die Radikalität, mit der nach und nach ein Monster darum kämpft, als
menschliches Wesen gesehen zu werden.

GG versteckt sich dabei nicht hinter der Greisenmaske, er nutzt sie eher, um den Momenten des obsessiven Kämpfens eine vergebliche Note zu geben. Ganz steif gibt er sich, wenn er bekennen will, worum es ihm eigentlich ging. Und ganz ungelenk wirkt er, wenn ihm entschiedene Ablehnung begegnet. Wenn er
schließlich ausholt zu seiner Schlussrede, die alles erklären und alles entschuldigen soll, spart Roland Suso Richter diese aus. Und GG gelingt, mit
stummer Rede, die wohl auf die verzweifelte Verteidigung des Unmenschlichsten zielt, die definitive Präsentation eines Nosferatu. Maske und Mimik stellen
klar: Nicht am Leid seiner zigtausend Opfer war er je interessiert, nur an der Reputation der eigenen "Versuche". Nicht am Ekel, sondern am Nachhall des bösen Tuns.



Komödiantisches

Zwischen diesen späten Monsterrollen wagte GG auch immer wieder Leichteres: mal Kriminal-Komödiantisches, wie in Frank Beyers Der Bruch (1988), mal
vordergündig Politisches, wie in Reinhard Hauffs Blauäugig (1989), mal skurril-deftiger Slapstick, wie in Helmut Dietls Schtonk! (1991), mal Burschikos-Melodramatisches, wie in Peter Stripps Ich und Christine (1993), mal beschwingt-heitere Screwball Comedy, wie in Dietls Rossini (1996). In dieser Zeit dachte er wohl erstmals daran, dass "die Professionalität eines Schauspielers" doch eher daran gemessen werde, "wie knapp er den Text umsetzt. Ein wesentlicher Teil meiner Professionalität (besteht) darin, im Laufe der letzten 30 Jahre die Kamera immer mehr vergessen zu haben. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Dieses fürchterliche schwarze Etwas, das auf dich gerichtet ist, ob es läuft oder nicht, es wird zum Feind, weil du auf einmal anders bist als im Leben. Und das muss man vergessen."

Große Kinofiguren gelangen ihm dabei aber nur bei Dietl; es waren die fünfte und siebte: die des betrügerischen Sensationsreporters Hermann Willié in
Schtonk! und die des Regisseurs (Dietls Alter Ego) in Rossini. Und da hat man den Eindruck, dass er in keinem Moment vergessen hatte, wie nah das "fürchterliche schwarze Etwas" auf ihn gerichtet war.

In Schtonk! gibt GG all seinen Affen Zucker: Er chargiert, dass sich die Balken biegen - reißt die Augen weit auf, wenn er Erstaunen vorgibt, wedelt mit den Armen, wenn er nachdrücklich betonen will, zuckt mit dem ganzen Körper hin und her, wenn ihn Aufregung durchströmt. Stets wählt er die überdeutliche Pose:
den Klamauk am Rande des Nervenzusammenbruchs.

In Rossini ist er wieder zurückhaltender, wählt minimale Nuancen, um auch extreme Regungen auszudrücken. Er spielt den künstlerischen Organisator als
grüblerischen Zweifler. Und er ordnet sich, einmalig in seinen späten Kinorollen, wohltuend ins Ensemblespiel ein.



Das Ekel und der Gangster

Zuvor schon, in den achtziger Jahren, spielte GG auch gelegentlich mit dämonischen Situationen, zunächst in Schenkels Abwärts (1984), danach auch in
Grafs Die Katze (1986).

In Abwärts gibt er einen in die Jahre gekommenen, arroganten Macho, der mit seiner jungen, schicken Kollegin eigentlich den Abschluss einer erfolgreichen
Arbeit feiern will. "Wenigstens ein Drink?" Als sie dies ablehnt, reagiert er verbittert und aggressiv. Kurz danach bleibt er - am frühen Abend irgendeines
Freitags in irgendeinem Bürohochhaus irgendeiner Stadt (Frankfurt vielleicht) - mit ihr und zwei anderen im Fahrstuhl stecken. Was zu Zwist, Bosheit und Krieg
führt.

Die Geschichte einer kleinen eingeschlossenen Gruppe also, die miteinander und gegeneinander eine gefährliche Lage zu bewältigen hat. Oder das Drama einiger Menschen im abgeschlossenen Raum innerhalb eines umfassenderen Raums (wie in Fords Stagecoach oder Hitchcocks Zug in The Lady Vanishes oder Petersens Boot). Die fiktive Zeit nähert sich dabei der realen Zeit; was extrem konzentrierend wirkt. Alles, was passiert, geschieht innerhalb weniger Meter und weniger Stunden.

GG ist das Ekel in der Runde. Er fördert, was die Situation schon an sich nahelegt, dass jeder jeden provoziert und beleidigt, jeder jeden bekämpft und verletzt. Seine Kollegin bügelt er harsch ab, als er bemerkt, wie sehr sie ihn ablehnt, über die beiden Männer höhnt und spottet er, so oft es ihm möglich erscheint.

Doch je länger die quälende Situation dauert, desto schwächer gibt er sich. GG entschält sozusagen die äußeren Häute dieses fiesen Maulhelden, bis als
Kern bloß noch der angeberische Schwächling bleibt. Gelegentlich übertreibt er dabei, ist mal einen Tick zu tough, mal einen Tick zu zerknirscht. Letztendlich aber porträtiert er mit ungewohnten Nuancen einen biederen Niemand, der allzu gerne ein standhafter Jemand wäre.

Danach nutzte GG Die Katze als Chance für seine erste mythische Gangsterrolle, die vierte seiner großen Kinofiguren.

Er ist da der Mann im Hintergrund, der zwei Männer eine Bank überfallen und die Angestellten als Geiseln nehmen lässt und alles von außen leitet und dirigiert, die einzelnen Schritte im Detail mal forciert, mal verlangsamt. Die Frau des Bankleiters, mit der er eine Affäre hat, ist als Helferin am Rande
eingeplant, überlegt aber gleichzeitig, wie sie ihren eigenen Vorteil nutzen kann. Jedes Ereignis, jeder Blickwinkel, jede Figur dieses Film sind arrangiert wie in einem existenzialistischen Endspiel. Über allem, was geschieht, liegt die Aura einer ungebändigten Willenskraft: Die einen wollen unbedingt ans Geld, die anderen wollen klarstellen, dass nichts geht ohne ihr Machtwort. "Du schaffst mich nicht, Du nicht", flüstert der Kommissar verbissen vor sich hin, als ihm klar wird, wie ausgeklügelt der Plan der Bankräuber ist. Die Katze ist auch ein psychodramatisches Endspiel um Vertrauen und Verrat, Konkurrenz und Kalkül zwischen fünf Leuten.

Die Spannung zwischen den drei Schauplätzen: Bank (Einbruch und Geiselnahme), Hotel (akustische und visuelle Überwachung der Polizeimaßnahmen durch GG als Bandenchef), Polizeizentrale (Strategiebesprechungen) wird intensiviert durch die Konflikte im Binnenraum der beiden Gruppen. Vor allem unter den Bankräubern wechselt die Stimmung mehrfach: kleinere Aggressionen am Rande, Machogehabe, Sticheleien, Zweifel an den geplanten Rollen. Als dann klar wird, dass der Mann in der Bank seinen Freund draußen einmal an die Polizei verraten hat, entsteht ein Bruch zwischen ihnen, der nicht mehr zu kitten ist. Er wisse, Verrat sei Verrat, und darauf stehe die Todesstrafe, gesteht er danach seinem "Kumpel" über Funk. Was wie ein Duell inszeniert ist - mit den quälend langen Bekenntnissen auf der einen und GGs quälend langem Schweigen auf der anderen Seite.

GG vertraut hier stärker als sonst seiner puren Ausstrahlung, formt die Figur des geheimnisvollen Strategen im Hintergrund als körperbewussten Manager mit
einer Vorliebe für abenteuerliche Pläne und schnellen Sex.

In Die Katze verpassen GG und seine Bankräuber den richtigen Zeitpunkt, um doch noch davonzukommen. Mal geraten ihnen ihre Gefühle ins Kalkül. Mal werden sie zur falschen Zeit mit falschen Mitteln unter Druck gesetzt. Aber sie geben nicht auf. Immer weiter und nie zurück. Das sichert ihnen schließlich das tragische Ende: "Für den Gangster gibt es in Wahrheit nur eine Möglichkeit - das Scheitern. Das letzte Sinn des Gangsters ist Anonymität und Tod" (Robert
Warshow, "Filmkritik" 4/69).

In dem TV-Film "Der Sandmann" (1995, R: Nico Hofmann, B: Matthias Selig) ist die Wirkung des Ungeheuerlichen für GG Material für makaberste Scherze, dafür, wie es die Massen und die Medien so elektrisiert, dass ein Hasardeur seine ganz eigenen Pläne verfolgen kann. Ein Fernsehsender meint einen Serienmörder zu entlarven, während der den ganzen Rummel um ihn bloß nutzt, um seinen neuen Roman stärker ins Gespräch zu bringen. Diabolisch das Spiel, vergnüglich die Strategie dahinter.

Und GG spielt vergnüglich die ganze Palette seiner Ausdrucksformen durch: mal ist er ganz leise, mit diabolischem Unterton; mal gibt er sich sehr intim, als
böte er Einblick in seine geheimsten Gefühle; mal ist er ganz nach außen gekehrt, mit lauten Worten und hektischen Gesten; mal gibt er sich humorvoll
entspannt, als sei alles doch nichts als ein heiteres Spiel.



Die großen Gesten

Das Nachdenken und Schreiben über einen Darsteller des Kinos schwankt wohl immer zwischen Charakterisierung der jeweiligen Rolle, mimografischer
Annäherung und Benennung der filmischen Strategie dahinter (vgl. dazu auch die neueren Publikationen zur "Schauspielkunst im Film" im Gardez! Verlag,
St.Augustin, und Schüren-Verlag, Marburg).

Rolle und Typ, Bewegung, Blick und Rede, Repertoire von Gestik und Mimik - und dann Kamera und Montage, die Anblick und Verhalten des Darstellers neu
interpretieren, ihm quasi sein "zweites Gesicht" geben; dies ist das eine, die Basis sozusagen. Aber dann gibt es noch das andere, die besonderen,
geheimnisvollen Momente zwischen Darsteller und Kamera, die ein Bild, eine Szene völlig verändern, die etwas aufschimmern lassen, was vielleicht am ehesten als imagologische Präsenz zu bezeichnen ist (hervorgerufen durch die intime Verschmelzung einer Geste, eines Blicks, einer Bewegung, einer Aktion mit einer ungewöhnlichen Kamerabewegung oder eines überraschenden Schnitts). Dafür sind jeweils neue Einschätzungen und auch neue Begriffe zu finden, die "die Nomenklatur" der Untersuchungen stetig verändern.

Bei GG ist schon die große Kunst des Schauspielens zu würdigen, bei Staudte und Kotulla, bei Karmakar, zuletzt auch bei Dietl und Richter, die großen Gesten in Maske und Kostüm.

Aber dann gibt es diesen nachdrücklichen, seltsam erstaunten Blick, dieses körperbetonte, sonderbar überrumpelnde Gebaren, diese poltrigen, eigenartig
aggressiven Bewegungen, diese kumpelige, merkwürdig sanfte Gestik. Eine ganz eigene Präsenz jenseits von Figur und Rolle wird sichtbar, die vor allem in GGs Gangster- & Polizeifilmen dominiert, ob die nun (wie bei Hajo Gies) von gebrochenen Siegertypen oder (wie bei Dominik Graf oder Nico Hofmann) von ewigen Verlieren erzählen.



Schimanski

Anfang der Achtziger schließlich GGs Lebensrolle: die des rauhbeinigen Ruhrpott-Bullen Horst Schimanski, zwischen 1981 und heute in 36 Filmen ausgespielt. Die Serie begann 1981 (mit "Duisburg Ruhrort", Regie: Hajo Gies, Buch: Horst Vocks, Thomas Wittenburg).

Von Anfang an kämpfte er gegen die Welt, gegen Bösewichter und Ignoranten gleichermaßen. Kein Schimanski ohne GGs erstaunten Blick, dass da wieder einmal niemand begreift, weder Freund noch Feind, weder Kollege noch Vorgesetzter, wie sehr das Land, die Stadt, das Heim in Gefahr sind.

Von Anfang an trat er jede Tür ein, die ihm gerade den Weg verbaute, ob sie nun offen oder verschlossen war. Und von Anfang an stand er am Ende oft mit leeren Händen da, weil er sich stets ein wenig zu forsch verhielt und stets ein wenig zu schmuddelig kleidete. GG als zorniger Krieger, der keine Regeln einhält, aber sein Herz auf dem rechten Fleck hat.

Er sei doch bloß ein Karrierist, warf er im letzten "Schimanski" des letzten Jahrhunderts ("Sehnsucht", R: Hajo Gies) einem Kollegen vor, der direkt dem Innenminister unterstellt ist. Er werde nie kapieren, dass ihr Beruf etwas zu tun habe mit Ehre und Leidenschaft.

Um Ehre und Leidenschaft ging es allerdings immer bei Schimanskis Abenteuern. Bereits in "Grenzgänger" (1981, R: Ilse Hoffmann, B: Felix Huby) ließ er nicht locker, bis es ihm gelungen war, alle Hintergründe aufzudecken. Da reiste er sogar dem Kollegen, der ihn hintergangen hatte, bis in die Südsee nach. Lachend winkte er ihm zu, als er ihn endlich verhaften konnte, mitten am weißen Strand unterm strahlend blauen Himmel.

"Ein Mann von Ehre" sei er - "aus innerster Notwendigkeit, ohne Gedanken daran und gewiss ohne Worte", so charakterisierte Raymond Chandler einmal seinen mythischen Privatdetektiv Philip Marlowe. "Er redet, wie ein Mensch seines Alters redet, das heißt mit rauem Witz und lebhaftem Sinn fürs Groteske, mit
Abscheu vor Heuchelei und Verachtung für alles Kleinliche." Schimanski war von Anfang an eine deutsche Variante des kalifornischen Philip Marlowe (schon von der Perspektive her, da alles aus seiner Sicht erzählt wird). Auch er ging mal mit viel Tatkraft, mal mit tiefer Schwermut zu Werke. Auch ihm fehlte das Talent
zu kapitulieren (sicher eine zentrale Voraussetzung der Serie insgesamt). Und auch er geriet, wenn er sich wieder einmal zu weit vorlehnte, schnell ins Torkeln. In "Zweierlei Blut" (1984, R: Hajo Gies, B: Felix Huby, Fred Breinersdorfer), einem Fall um Fußball-Hooligans, liegt er einmel in der Mitte des Wedau-Stadions, ausgepowert, betrunken - und nackt.

In Gies' Zahn um Zahn (1985), in dem Schimanski erstmals zur Kinofigur wird, kann er nicht begreifen, warum ein alter Freund seine Familie und danach sich
selbst getötet hat. Er sucht, fragt, stöbert herum, obwohl all seine Kollegen dagegen sind, Spurensicherung, Labor, Präsidium - und findet dabei Hinweise auf
Intrigen und Ränkespiele. Er wird vom Dienst suspendiert, legt sich mit allen an, Freund wie Feind, bedroht, prügelt, erpresst. Er akzeptiert keinerlei Grenze mehr, kein Gesetz und keine Konvention, bis er alles ausgegraben hat, was so tief und sorgsam verborgen worden war. Darstellerisch ein physischer
Gewaltakt, künstlerisch eher eine Artistenposse (obwohl mir danach immer schleierhaft blieb, warum Hajo Gies kein Regie-Star im Unterhaltungskino hier zu
Lande wurde).

GG und seine Schimanski-Abenteuer: In den achtziger Jahren zählten sie zu den Highlights bundesdeutscher Fernsehunterhaltung. Ein neuer Ton kam auf, weit entfernt von trister Beamten-Realität, doch nahe an den wirklichen Problemen des Landes: Ausländerhass, Drogenhandel, Kinderpornografie, Mietwucher, Wirtschaftskriminalität. GG gab den rebellischen Geist, ohne Frage. Gleichzeitig aber war er auch ein altmodischer Held, ein westdeutscher Sisyphos, der deutlich machte, wie wenig Worte noch zählen, wie verlogen oft die Moral ist und wie überaltert das Recht. Seine so eigenen Vorstellungen von Ehre und Leidenschaft waren es, die ihn immer wieder in die Bredouille brachten. Mal verhedderte er sich zwischen den üblichen Verdächtigen. Mal verlor er sich in falscher Kumpanei. Mal kam er den politisch Mächtigen in die Quere. Seine tiefe Traurigkeit in "Miriam" (1983, R: Peter Adam), als er am Ende akzeptieren muss, dass die schöne Blonde, die er zutiefst verehrt, doch zurückkehrt ins elterliche Haus, nachdem er gerade ihren Vater verhaftet hatte, riss einem das Herz auf. Sie war auch Ausdruck seiner ewigen Vergeblichkeit, Frieden zu finden in dieser Welt.

Für GG selbst ist Schimanski "ein guter Antityp", der "ehrlich, kompromisslos und mit mehr Selbstironie ausgestattet" sei, "als viele wahrhaben wollten". Ein
Typ, dem man verzeihe, "wenn er mal im Wohnzimmer pupst." In "Moltke" (1988, R: Hajo Gies) legt er sich wieder mal mit allen an, weil er sicher ist, auf der
richtigen Spur zu sein. Keine Regel hält er ein und keinen Grundsatz der üblichen Polizeiarbeit. Er sei, so bekennt er dabei einmal, vielleicht zu feige gewesen, um ein Gangster zu werden.

"Schwarzes Wochenende" (1986, R: Dominik Graf) folgt einem Reigen, der die Suche nach dem Täter auch zu einem Panorama unterschiedlichster Charaktere macht. Erzählt wird von zwei verfeindeten Familien, die sich gegenseitig verfolgen und hassen - und dennoch nicht loskommen voneinander. Der Polizeifilm als labyrinthisches Rätsel, das, ist ein Punkt geklärt, stets zum nächsten Mysterium führt.

Schimanski und Tanner umkreisen sich anfangs wie eifersüchtige Jungs, bis sie schließlich entscheiden, doch zusammen  zu arbeiten, auch, weil sie lange Zeit nichts durchschauen, nur im Dunkeln herumtapsen und immer aufs Neue feststellen müssen, dass sie wieder und wieder in die falsche Richtung agieren.

GG ist bei Graf nicht nur der Polterer, sondern auch der leidenschaftliche Jäger, der, auch wenn er nie so recht den Durchblick findet, dennoch weiter- und weiterzieht: ein Prototyp des obsessiven Polizisten.

Polizeifilme haben eine lange Tradition im deutschen Kino. Schon bei Fritz Lang, in Dr. Mabuse und "M", sind es Polizisten und Staatsanwälte, die den Verbrechern mit Entschiedenheit entgegentreten - den Allmachtsphantasten und Triebtätern. In den meisten dieser Genrefilme sind die Helden festgelegt auf
dröges Ordnungsdenken und brave Pflichterfüllung. Allemal interessanter sind die Obsessiven, die, einmal fasziniert von einer Sache, alles einsetzen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen: Hans Albers bei Richard Eichberg (Der Draufgänger, Der Greifer) in den dreißiger, René Deltgen bei Erich Engels in
den vierziger (Dr. Crippen an Bord), Claus Holm bei Robert Siodmak (Nachts, wenn der Teufel kam) in den fünfziger Jahren oder Heinz Rühmann in Vajdas Es
geschah am hellichten Tag, der sogar seinen Job aufgibt, um das "Ungeheuer" zu fassen, "das unschädlich gemacht werden muss."

Eine wichtige Regel: je gebrochener der Held und je grundlegender er in Schwierigkeiten gerät, desto vielschichtiger die Geschichte. Zum Rätsel um das
unaufgeklärte Verbrechen kommt dann das Abenteuer eines Menschen in Bedrängnis, der durch sein Verhalten zeigt, wer und was er ist.

GGs Schimanski ist der Held in Bedrängnis par excellence. Er geht stets seine eigenen Wege. Auch, weil er sich weigert einzusehen, dass die Welt so ist, wie
sie ist. Er will sie zwar nicht verändern, aber doch ein wenig korrigieren. Das sorgt oft für Krach mit seinen Vorgesetzten. Es schafft auch harsche Reibereien
mit Kollegen und Freunden.

Und es bringt ihn hin und wieder in Konflikt mit den starken Frauen, denen er begegnet. Einige hatten zwar Interesse. Einige liebten ihn sogar. Aber sie blieben nicht. In Zahn um Zahn muss er einer befreundeten Journalistin hinterherjagen, die ihm stets um einige Momente voraus ist - und ihn, wenn sie schon mal zusammentreffen, mit schöner Regelmäßigkeit im Regen stehen lässt. In Zabou (1986) wird er von der eigenen Stieftocher provoziert und an der Nase
herumgeführt. Und in "Broken Blossoms" (1988, R: Hajo Gies, B: Martin Gies ) sucht er die Nähe zu einer Tänzerin, die ihn im Innersten erschüttert. Aber die Gefühle halten nicht, auch, weil er sich nie so recht traut, sich voll und ganz hinzugeben.

Inzwischen ist Schimanski mit GG älter geworden. Und, was schön ist, er verbirgt das nicht. In den letzten Filmen ist seine Haut "welkes Zeug", das Haar zottelig kurz, der Bart stoppelig. Aber noch immer trägt er seine ausgewaschenen Blue Jeans. Der Hemdkragen unterm Parka ist oft hochgestellt. Und sein Auto hat links und rechts Dellen. Und noch immer ist er "ein richtiger Eisenbeißer". Der "berüchtigste Kommissar" des Reviers, wie die für ihn zuständige Staatsanwältin bemerkt. "Wir setzen ihn vorzugsweise dann ein, wenn es gilt, eine Schneise in den Wald zu schlagen oder bei einer Fahndung ein Erdbeben auszulösen." Schneisen schlagen - Erdbeben auslösen, für Gerechtigkeit kann man so nicht sorgen, nur das große Durcheinander ein wenig reduzieren.



Schwarze Fantasien

Wie kein anderer hat GG in den achtziger und neunziger Jahren den deutschen Kriminalfilm geprägt. Wie kein ander hat er hier zu Lande das Unerlaubte und
Unvorstellbare ausgelotet - mit Figuren am Rande schwärzester Fantasien.

Zunächst als Schimanski in der "Tatort"-Serie. Dann als Macho in Carl Schenkels Abwärts. Als Gangster im Hintergrund in Dominik Grafs Die Katze. Als
schlitzohriger Serienmörder in Romuald Karmakars Der Totmacher. Und als dämonischer Schriftsteller in Nico Hofmanns "Der Sandmann".

Schließlich ist er (in seiner achten großen Kinofigur, wieder bei Nico Hofmann) ein alternder City Cop - ein schwacher Mann, der stark sein will, der sich wie verrückt abstrampelt, um größer zu erscheinen, als er ist. Solo für Klarinette (1998), eine Berliner Hommage an den Classical Noir, ist eine rabenschwarze Fantasie über Angst und Verzweiflung, Trauer und Tristesse, Schmutz, Gewalt und Tod.

Die Noir-Welt, die schon immer Alptraum, Konfusion und Düsternis gewesen ist, wird bei Hofmann zum Chaos aus zerronnenen Hoffnungen und falschen Gefühlen, zum Wirrwarr um verlorene Ehre, vergebliche Liebe und verdrängte Irrtümer. Am Ende geht nichts mehr. Rien ne va plus.

Für mich ist dies die radikalste Variation seiner vielen Polizeifiguren: matt und ausgelaugt, bleich, kaputt, deprimiert, mit seiner Frau zerstritten, mit seinem Sohn im Clinch, gegenüber seinem Vorgesetzten unter Druck. Er liebe seinen Beruf, bekennt er einmal, aber er hat seine eigenen Vorstellungen, ihn auszuüben. Ein Besessener ist er, der sich nur lebendig fühlt, wenn er wirbeln kann, einschüchtern, drohen, unter Druck setzen. Ein Nachtgeschöpf zudem, der die Sonne scheut wie ein Vampir.

GG mit Bart, Brille und dunkler Kleidung, einen Strauß Blumen in der Hand. Seine Bewegungen wirken bedächtig, seine Gesten gelassen. Im Off dazu: das
Bekenntnis seiner Passion. "Ich kann nicht mehr genau sagen, warum ich Polizist geworden bin. Eigentlich wollte ich Pfarrer werden oder Arzt, irgendeinen Beruf, um den Menschen zu helfen. Meine Bilanz sind 651 Mordfälle in 21 Berufsjahren, aufgeklärt habe ich 458. Ich habe den Beruf immer geliebt. Aber der Beruf macht müde, unendlich müde."

Als er eine geheimnisvolle Frau (Corinna Harfouch) am Tatort sieht, die in der Hand den gelben Schirm trägt, der einige Minuten zuvor noch in der Wohnung des Ermordeten gestanden hat, wird er sofort aufmerksam. Doch niemand außer ihm scheint sie bemerkt zu haben, niemand außer ihm scheint sie wichtig zu nehmen. Er folgt der Frau, beobachtet, wie sie zur Arbeit geht, wie sie telefoniert, wie sie ihren Müll auskippt. Er schnüffelt ihr und ihrem Leben nach - und gerät dabei mehr und mehr in ihren Bann. Spuren darf man nicht suchen, Spuren muss man kommen lassen - das ist seine Devise. Also achtet er besonders darauf, was um ihn herum passiert und andere gerne übersehen.

In Solo für Klarinette geht es darum, wie das Ungeheuerliche reizt und erschreckt - und doch, wenn tiefere Gefühle ins Spiel kommen, zu bannen ist. Für GG als Polizist ist plötzlich völlig unwichtig, was die Frau, die er begehrt, getan hat, er ist bereit zu täuschen, zu fälschen, zu betrügen, um sie nicht zu verlieren. Obsessiv das Spiel, dämonisch die Strategie dahinter.

Eigentlich geht es ihm anfangs nur um den Job, um den gelben Schirm als Beweis für ihre Verstrickung in den Mord. Mit den Tätern sei es wie bei den besten
Freunden, erklärt er dazu. "Man muss sie lieben, um sie zu verstehen." Er habe gelernt, dass bei der Ermittlung alle Details wichtig seien und dass man die
Details in aller Ruhe auf sich zukommen lassen müsse.

Mitten in seinen Untersuchungen aber verlässt ihn seine Frau. Und sein Boss suspendiert ihn vom Dienst. Von einem Tag zum anderen zerfleddert sein Leben. So wird ihm plötzlich die Frau im braunen Ledermantel mit dem gelben Plastikschirm wichtiger, als sie es dürfte.

Immer sehnsüchtiger wird sein Blick auf diese Frau, bis er seine eigentliche Aufgabe aus den Augen verliert. Bis ihm nicht mehr wichtig ist, was bisher sein
ganzes Leben ausmachte. Am Ende steht er dann mit leeren Händen und leerem Herzen da - verloren und verzweifelt, enttäuscht und entwurzelt.

Hofmann zeigt seinen verwirrten Helden oft inmitten trostloser Schauplätze: düsterer Straßen, schmuddeliger Plätze, schäbiger Häuser. Die Wohnsilos
wirken wie der zweite Vorhof der Hölle, leer, kalt, finster, und die Apartments wie Gruften, steril, aber feierlich. Dann rattert mal eine uralte U-Bahn vorbei, mal sind die Straßen müllüberflutet, mal ist die Welt voller Dunkelheit, Regen und Tod.

So stellt er auch äußerlich klar, was seinen Helden im Innersten bewegt: Finsternis und Irritation. Ein Gescheiterter ist er, der noch einmal von einem neuen Leben träumt, ein Traumwandler, ein lebender Toter.

Kein Wunder, dass GG danach (in seiner bisher letzten Rolle fürs Kino, in Richters Nichts als die Wahrheit) einen Hexenmeister aus dem Totenreich darstellt, einen späten Nachfahren von Murnaus Nosferatu, einen Herren der Nacht, der mit List und Tricks darauf achtet, dass der Tag nie eine Chance erhält.

Norbert Grob

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