Kritik zu Sehnsucht in Sangerhausen

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Julian Radlmaiers neuer Film ist ein poetisch verspieltes Filmmosaik, das auch aktuelle Themen berührt. Er hatte diesen Sommer auf dem Festival in Locarno seine Premiere

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Nicht weniger als die Errettung der deutschen Romantik in unsere Zeiten versucht dieser Film. In vier Episoden lässt er Lebenswelten, Kränkungen, historische und gegenwärtige Sehnsüchte zusammenwachsen zu einer Hymne an die Schönheit. Eine krächzende und eiernde Hymne auf einer Schlagermelodie, man muss sie mögen.

Um 1800 lebt Lotte, eine Dienstmagd, die den sehr schön anzuschauenden Nachttopf des Dichters Novalis leeren muss und anstatt der von ihm beschmachteten blauen Blume immerhin einen blauen Stein findet. Gemeinsam mit einem fahrenden Steinschlucker will sie nach Frankreich fliehen, wo allen Fürsten schon der Kopf abgeschlagen wurde.

Ursula, jung Mutter geworden, reinigt morgens das örtliche Möbelhaus und hört sich am Nachmittag dumme Sprüche von den Cafégästen an, die sie bewirtet. Als der lokale Kultursommer ein paar großstädtische Musikerinnen anlockt, tut sich ihr mit einem Mal ein völlig anderes Leben auf.

Neda ist aus Teheran geflohen und schlägt sich wider Willen als Travelinfluencerin für innerdeutsche Billigreiseziele durch (»auf Hartz im Harz«). In einer Straßenkehrerin meint sie eine alte Freundin zu erkennen – oder spukt es in Sangerhausen?

Diese Kleinstadt im Harz-Vorland von Sachsen-Anhalt ist der Ort allen Geschehens. Im Hintergrund thront der riesige Erdhaufen aus den Zeiten des Kupfer-Tagebaus wie ein Fujiyama, in der Innenstadt stehen DDR-Monumente ein wenig verloren herum, prächtig blühen sommers die Rosen, für die das Städtchen bekannt ist und die auch der kleine Schlagerkanon des Films nie müde wird zu besingen. Regisseur Julian Radlmaier und Kameramann Faraz Fesharaki scheinen sich verliebt zu haben in den Ort, so mühelos gelingen ihnen die bezaubernden Bild- und Farbkompositionen auf 16-mm-Film. Aus nur drei kurzen Einstellungen ist eine Liebesnacht montiert: eine Hand, die besagten blauen Stein darbietet, der Mond, ein Haufen Kirschen.

Doch es wäre ja zu schön: Auch die Rundfunkphantome Merz und Lindner spuken in den Sangerhausener Alltag hinein, verkünden Elend und raunen von der Schlechtigkeit alles Migrantischen. Nicht nur Neda bekommt kalte Schultern und mittlere Finger gezeigt von manchen Einheimischen, alltäglicher Fremdenhass zetert fast überall.

Die Krux des politischen deutschen Films ist ja, dass er sich gern in die Pose eines »Debattenbeitrags« wirft und dabei sterilisiert. »Sehnsucht in Sangerhausen« lässt das politische Klima durch sich hindurchgleiten, nimmt es auf und schielt doch immer nach etwas außerhalb von alledem, einem überalltäglichen Mehr. Der Film ist ein Seufzen und ein Sehen, das der Kunst gut zu Gesicht steht.

Wollte man Radlmaiers »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«, so der Titel seines Debütfilms von 2017, fortsetzen, wäre »Sehnsucht in Sangerhausen« ein unpolitisch-ästhetizistisches Traumbild zu nennen, dem das schlechte Gewissen marginalisierte Hauptfiguren und tagespolitische Seitenhiebe als Feigenblätter vorschreibt. Dass man aber den Film so gerne sieht, hat auch damit zu tun, dass er nicht vor Scham und politischem Rechtfertigungs- und Bekenntniseifer zu schwitzen scheint, wie das sonst oft der Fall ist.

Ursula, Neda und schlussendlich noch zwei weitere Sehnsuchtsgenossen begeben sich im klimatisierten Kleinbus auf Geisterjagd. Oder fliehen sie nicht eher vor etwas? Sei es drum, die Legendendichte im Harz hält manches bereit für sie. Es spukt an den profansten Orten. Kaiser Barbarossa hält seinen Jahrtausendschlummer neben der PVC-Fabrik, die Verzweiflungszigarette lässt man lieber bleiben, Waldbrandgefahr und so. Alltäglichkeit, vor 200 Jahren wie heute, weiß einer tief empfundenen Romantik viel entgegenzuhalten, doch der Zufall schlägt kleine Schneisen. Ihnen zu folgen, lernt man in Sangerhausen.

»Sehnsucht in Sangerhausen« schwingt sich gewagt und frohgemut an seinen Vorbildern hinauf – es kommen Rohrwacher, Fassbinder, Löwenzahn, das Sonntagsmärchen, Jarmusch und Greenaway in den Sinn, wenn man sie denn suchen und benennen will. Bis zum Ende besteht dieser Film darauf, dass es mehr für uns gibt, dass die Kirschen wirklich so saftig sind, wie sie aussehen.

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