Kritik zu Blutsauger

© Grandfilm

Sein Abschlussfilm »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« wurde ein kleiner Kulthit. Nun schließt DFFB-Absolvent Julian Radlmaier daran an mit einer kühnen Mischung aus Marxismus, Kostüm- und Vampirfilm

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Ein Picknick am Ostseestrand. Junge Menschen in eigentümlich altmodischer Kleidung sitzen im Dünensand. Ein illustrer Lesekreis, sie diskutieren »Das Kapital« von Karl Marx, was sonst. Das achte Kapitel, das sich »bekanntlich mit dem Arbeitstag befasst«, wie die Buchclubleiterin feststellt. Es ist das Jahr 1928 und Marx' Kritik der politischen Ökonomie offenbar anregende Strandlektüre. Da hat einer gleich eine Verständnisfrage zum fünften Absatz und einer Fußnote, in der Marx vom Kapitalisten als Vampir erzählt, der sich vom Einsaugen lebendiger Arbeit ernährt und sie bis zum letzten Blutstropfen ausbeutet. Und schon sind wir mittendrin in der »marxistischen Vampirkomödie« von Julian Radlmaier. 

Der inzwischen 38-jährige Filmemacher hatte sich bereits 2017 in seinem Langfilmdebüt, der Diskurssatire »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«, lustvoll fabulierend mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Damals war die selbstironische Agitprop-Burleske auf einer sommerlichen Apfelplantage in Brandenburg angesiedelt, im Nachfolger richtet Radlmaier seine eigenwillige Perspektive in die Vergangenheit. Wobei seine Version von 1928 mehr mit der Gegenwart zu tun hat als nur die zeitlosen Hipsterklamotten. Und er nimmt die Metapher vom Kapitalisten als Blutsauger explizit beim Wort. 

Der aus der Sowjetunion geflohene Fabrikarbeiter Ljowuschka (Alexandre Koberidse) kommt in dem deutschen Seebad an, um von hier aus nach Amerika auszuwandern und in Hollywood seinen Traum einer Schauspielkarriere zu verwirklichen. Er gibt sich als russischer Aristokrat aus und versucht, sich das Geld für die Überfahrt zusammenzuklauen. Als er bei seiner Diebestour der deutschen Großindustriellentochter Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) begegnet, die mit ihrem etwas tollpatschigen Diener Jakob die Sommermonate im mondänen Küstenanwesen der Familie verbringt, verliebt er sich Hals über Kopf in die kapriziöse junge Dame, ohne zu ahnen, dass sie sich mit Menschenblut frisch hält. Die schnell gelangweilte Millionärstochter findet Gefallen an dem mysteriösen Flüchtling und bietet ihm Unterschlupf an.

Erst spät wird in einer Rückblende der Grund für Ljowuschkas Flucht erzählt, der von Sergei Eisenstein für dessen Revolutionsepos »Oktober« als Leo Trotzki besetzt, doch am Ende aus dem Film geschnitten wurde, als der echte Trotzki bei Josef Stalin in Ungnade gefallen war. Mit der Geschichte findet die Millionärstochter den Flüchtling gleich noch aufregender und ist bereit, einen Film für ihn zu finanzieren. Es soll, selbstverständlich, ein Vampirfilm werden. Und Octavia spielt die Hauptrolle. Jakob unterdessen, den Octavia wie einen Leibeigenen herumkommandiert, reagiert auf die sich anbahnende Romanze zwischen seiner Herrin und dem falschen Baron zunehmend eifersüchtig. Den Träumer Ljowuschka spielt der aus Georgien stammende Alexandre Koberidse, dessen eigenes Regiedebüt »Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?« derzeit ebenfalls im Kino zu sehen ist. Hier stand er für seinen langjährigen Kommilitonen vor der Kamera, beide sind Absolventen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. 

Mit bösem Witz reflektiert Radlmaier nicht nur Fragen der Klassengesellschaft, die heute noch gültig sind, neben der obligatorischen Kritik an Kapitalismus und Bürgertum zerlegt er auch genüsslich so manche Marotte buchstäblicher Salonlinker und die Selbstüberschätzung intellektueller Besserwisser, die der Arbeiterklasse die Welt erklären wollen. Sein Tonfall ist selbstironisch-distanziert, die geschliffen-schillernden, anspielungsreichen Dialoge werden von den Darstellern gegen jeden Naturalismus vorgetragen, dass es eine wahre Freude ist. Darüber hinaus ist »Blutsauger«, und damit dem bezaubernden Liebesfilm seines Hauptdarstellers Koberidse gar nicht unähnlich, auch eine Hymne auf die Magie und die Tricks des Kinos. Ein feinperlig cinephiles Vergnügen.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt