Kritik zu Mutter & Sohn

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Calin Peter Netzers Film ist ein würdiger Gewinner des Goldenen Bären: Ein Meisterstück des indirekten Erzählens, das eine Familientragödie zu einer Bestandsaufnahme der rumänischen Gesellschaft weitet

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2 (Stimmen: 1)

Als dieser Film auf der Berlinale lief, wurde er in den diversen Fernsehberichten vom Festival immer nur mit einem Szenenausschnitt vorgestellt. So etwas hat in der Regel rechtliche Gründe. Die Produzenten schränken die Szenenauswahl ein auf ein Beispiel, das den Film im besten Fall triftig repräsentiert, aber nicht zu viel von ihm preisgibt. Bei Mutter & Sohn ist dies eine Aussprache zwischen den Titelfiguren. Sie steht fast am Ende des Films, geht seiner Katharsis aber noch voraus. Es ist ein Moment, auf den der Zuschauer gut einhundert Minuten lang sehnlich gewartet hat, der aber auch ohne Kenntnis des Films eine enorme emotionale Spannung entwickelt.

Barbu (Bogdan Dumitrache) weist seine Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu) in die Schranken. Der Sohn, der im Verlauf von Calin Peter Netzers Film nie zum Vorschein kommen konnte, steht endlich für sich selbst ein. Die ruhige Entschlossenheit, mit der er es tut, hat ihn ungeheure Kraft gekostet. Bis dahin ist er fast an der besitzergreifenden Mutterliebe erstickt. Er konnte sich ihrer nur mit hilflosem Trotz erwehren. Nun bringt er die Verwegenheit auf, der Frau, der es gänzlich an Empathie gebricht, einen Rollentausch vorzuschlagen. Sie soll ihn fortan nicht mehr täglich anrufen, soll ihn nicht mehr mit Fürsorglichkeit erpressen. Vielmehr soll sie abwarten, bis er sich freiwillig meldet. Cornelia ist außerstande, das zu begreifen. Aber ihr Sohn hat den wichtigsten Schritt seines Lebens getan.

Ein Detail dieser Szene, das dem Fernsehzuschauer entgeht, sind die ungeduldigen Schritte von Barbus Lebensgefährtin Carmen, die im Hintergrund wartet. Sie ziehen der Aussprache eine weitere Ebene ein: als atmosphärischer Appell, als Mahnung an Barbu, das längst Überfällige zu erledigen. Seine eigentliche Bewährungsprobe steht Barbu freilich noch bevor. Er muss die Familie des 14-jährigen Jungen aufsuchen, den er bei einem Verkehrsunfall getötet hat. Auch dabei will die Mutter das Heft in der Hand behalten. Ob es Barbu gelingt, sich zu einer Geste des Beileids und selbstbewusster Menschlichkeit durchzuringen, ist einer der großen Suspense-Momente, die das Kino in diesem Jahr bereithält.

Obwohl Barbu der Auslöser der Tragödie ist, gehört ihm nicht die Erzählperspektive des Films. Sie ist allein Cornelia vorbehalten, die über beste Beziehungen verfügt und alles daransetzt, dass ihr Sohn nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist ein kühner erzählerischer Zug. Der Regisseur kann ihn sich zutrauen. In seinem Langfilmdebüt Maria hat Netzer vorgeführt, wie ertragreich es ist, den Blickwinkel über die direkte Betroffenheit hinaus zu erweitern: Das Martyrium einer Mutter von sieben Kindern, deren Mann gewalttätig ist, lässt er zwischen Schelmenroman und Tragödie schillern. Auch in der trefflichen Satire Ehrenmedaille wechselt er agil den Erzählton, um ein Psychogramm des nachrevolutionären Rumäniens zu entwerfen. In seinem Koautor Razvan Radulescu fand er für seinen neuen Film einen exzellenten Komplizen. In 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage und Dienstag nach Weihnachten hat er demonstriert, welch große Seelenräume sich eröffnen können, wenn man eine Geschichte aus einer mittelbaren Perspektive erzählt.

Netzer und Radulescu zeichnen Cornelia mit großer Einfühlsamkeit. Sie brechen nicht den Stab über sie. Schon Ehrenmedaille handelt davon, wie schwer es Eltern ihren Kindern machen können, sie zu lieben. Bei aller Monstrosität, mit der Cornelia die Behörden korrumpieren, Zeugen bestechen will und ihre eigene Familie entmündigt, bleibt sie eine Frau, die um Zuneigung buhlt. Die Insignien, mit denen die erfolgreiche Innenarchitektin ihren sozialen Status demonstriert – sie verfügt über ein ganzes Arsenal von Schmuckstücken und Pelzen –, sind vulgär und zugleich ein Schutzpanzer. Ihre Liebe ist buchhalterisch. Sie zerrt an ihrem Sohn und auch an ihr selbst. Es werden viele Medikamente genommen in dieser Familie. Luminita Gheorghiu ist eine großartige Verteidigerin ihrer Figur, aber Nachsicht hat sie nicht mit ihr. Mit beiläufiger, gleichwohl hingebungsvoller Detailgenauigkeit protokolliert der Film ihre Enttäuschungen. Man achte nur einmal auf den Orangensaft, den sie morgens frisch für Barbu presst, sodann in Zellophan verschließt und schließlich abends aus dem Kühlschrank holt, um ihn wegzuschütten.

Mit achtsamer Nervosität folgt Andrei Buticas Handkamera den Gesten der Akteure. Nichts entgeht ihr. Wenn sie etwas ausspart, wird es trotzdem spürbar. Die Konzentration auf Cornelia könnte man dem Film als frivol auslegen. Sie ist es nicht. Netzer und Radulescu lassen den Zuschauer lange warten, bis er die Eltern des verunglückten Jungen zu Gesicht bekommt. Die Kamera hat selbst dann kaum einen Blick für sie. Cornelia spielt sich verzweifelt in den Vordergrund. Die wenigen Momente, in denen der Schmerz der Eltern des Opfers sich Bahn bricht, sind von bestürzender Diskretion. Der Film muss nicht mehr zeigen. Er vertraut darauf, dass seine Zuschauer in Gedanken die ganze Zeit bei ihnen waren.

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