Kritik zu Liebe Angst

© Real Fiction Filmverleih

2022
Original-Titel: 
Liebe Angst
Filmstart in Deutschland: 
23.03.2023
L: 
81 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Schrecken ohne Ende: Sandra Prechtel und Kim Seligsohn erzählen einfühlsam über Traumata, die von einer Generation an die nächste weitergeben werden

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Es geht nicht um Schuld. Es geht darum, dass die Dinge so waren, wie sie waren«, wirft Kim Seligsohn ihrer Mutter, die sie nur Lore nennt, in einem Streitgespräch an den Kopf. Aber wie waren die Dinge eigentlich? Das ist die Frage, die Kim umtreibt und für deren Klärung sie sich Unterstützung von Regisseurin Sandra Prechtel geholt hat, die sie auf ihrer Suche begleitet.

Was wir erfahren, ist nicht viel: Lore ist als Kind einer jüdischen Mutter der Ermordung durch die Nationalsozialisten entkommen, weil sie von einer anderen Familie in Berlin versteckt wurde. Ihre Mutter starb im Konzentrationslager, ihr Bruder floh zuerst nach Australien und von dort nach Polynesien, weil er nicht im Land der Täter*innen leben wollte. Gesprochen hat Lore darüber kaum. Ihre Tochter Kim und ihren Sohn Tom zieht sie im Berlin der 1960er Jahre allein groß. Kim hält es als 13-Jährige nicht mehr zu Hause aus, haut ab, lebt mit einem älteren Mann zusammen, findet Halt in der Musik. Ihr Bruder kämpft lebenslang mit psychischen Problemen, überlebt einen Suizidversuch und nimmt sich Jahre später doch das Leben. Lore ist, als die Dreharbeiten beginnen, über 80 Jahre alt. Das Verhältnis von Mutter und Tochter ist eng, aber angespannt und geprägt von dem, was nicht gesagt wird.

All diese kleinen Details bleiben biografische Fragmente. Kims verzweifelte Versuche, Lore gegen Ende ihres Lebens doch noch zum Sprechen zu überreden, ihr Brücken zu bauen, scheitern: auf dem Friedhof, wo sie Toms Grab besuchen. In der Psychiatrie, wo sie seine Akte einsehen, oder im Kreis des polynesischen Teils der Familie. Lore bleibt stumm. Macht dicht. Schweigt. Bis zu ihrem Tod. Was Kim als »dauernden Fluchtversuch vor etwas, was sowieso schon passiert ist« beschreibt, bildet das Kernthema des Films.

»Liebe Angst« erzählt davon, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden. Von den oft beschriebenen Schuldgefühlen derjenigen, die überlebt haben, während Millionen andere sterben mussten. Von den eigenen Erlebnissen, die so schrecklich sind, dass ein Leben allein nicht ausreicht, um sie zu verarbeiten. Kims Rebellion und ihre andauernde Abnabelung von Lore sowie Toms Unfähigkeit, sein eigenes Leben zu bestreiten, zeugen davon. Besonders schwer erträglich ist, dass dieser Prozess längst nicht abgeschlossen ist. Weder für die Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus noch für die anderen Verbrechen, die sich seitdem und noch immer tagtäglich weltweit ereignen. Auch die Menschen, die beispielsweise aus Kriegs- und Krisenregionen wie der Ukraine oder Syrien fliehen, erleiden Traumata, die sich durch nachfolgende Generationen fräsen werden.

Trotz dieser Schwere gelingt es Prechtel aus der Distanz der Regisseurin heraus, auch hoffnungsvolle Momente einzufangen: in denen Kim und Lore sich schweigend verstehen. Sich umarmen, Späße machen oder einander necken. Der lebenslange Wille der Tochter, die Mutter zu verstehen, und Lores störrische Geduld, das auszuhalten und ihr dies zu verzeihen, hat beide doch ein Leben lang verbunden.

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