Kritik zu Der Wert des Menschen

Trailer OmU © temperclayfilm

Stéphane Brizé (»Mademoiselle Chambon«) folgt in seinem neuen Film einem entlassenen Facharbeiter über 50 durch die unschöne neue Welt der Arbeitsplatzbeschaffungs- und Beratungsmaßnahmen. Hauptdarsteller Vincent Lindon macht daraus ein packendes Drama über die Selbstachtung des Menschen

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5 (Stimmen: 1)

Wie viele Rabattmarken ist ein Mensch wert? Wie viele Bonuspunkte? Zunächst ist man vielleicht versucht, das als lächerliche Fragen abzutun oder als unzulässige Relation, dann aber fällt einem die Supermarktkassiererin wieder ein, die vor ein paar Jahren wegen einbehaltener Pfandflaschenbons fristlos entlassen wurde und die nicht die Einzige war. Veruntreuung ist schließlich Veruntreuung, und Centbeträge läppern sich, und überhaupt, wenn so was erst mal einreißt... Im Kapitalismus des globalisierten Zeitalters ist das Gegenüber kein Mitmensch mehr, sondern eine wirtschaftliche Einheit, aus der sich Gewinn ziehen lässt, ja gezogen werden muss. Wenn die Einheit alt wird, kommt sie zum alten Eisen, wenn die Einheit menschelt, müssen Maßnahmen ergriffen werden. Denn die humanen Eigenschaften der Einheit sind unberechenbar, somit suspekt; Misstrauen, Generalverdacht und Kriminalisierung regeln daher den Verkehr. Eben dies macht Stéphane Brizé in seinem Drama »Der Wert des Menschen« am Beispiel eines Mannes namens Thierry Taugourdeau sichtbar. Er demonstriert die merkantilistischen Mechanismen, denen zwischenmenschliche Beziehungen im Rahmen moderner Arbeitswelten unterworfen werden.

Thierry (Vincent Lindon) ist ein liebender Vater und treu sorgender Gatte, aber er hat seine Arbeit verloren, und das Geld wird allmählich knapp. Wie ein Löwe kämpft er nun gegen den sozialen Abstieg. Und jede Runde, die er verliert, nutzt Brizé exemplarisch. Zu Beginn des Films sitzt Thierry im Jobcenter und beschwert sich bei seinem Berater über eine sinnlose Fortbildung, die man ihm aufgeschwatzt hat; alle verdienen, nur er hat immer noch keinen Job, meint er, und bringt zum Ausdruck, dass das Verwalten von Arbeitslosigkeit einen profitablen Wirtschaftszweig hervorgebracht hat. Nicht viel später versucht er bei der Bankberaterin, einen Kredit zu erwirken. Stattdessen schlägt sie ihm eine Sterbeversicherung vor, damit, so drückt sie es aus, »seine Lieben abgesichert sind, falls ihm etwas zustößt«. Das ist dann schon jenseits von zynisch, und Thierry kann es nicht fassen. Er traut seinen Ohren kaum. Aber er ist zu wohlerzogen, um sich zu wehren, und er ist zu eingeschüchtert, zu erniedrigt, zu hilflos; er ist auf die Unterstützung dieser Frau angewiesen, also macht er gute Miene zum bösen Spiel. Und die Frage, die von Anfang an im Raum stand, wird immer größer und immer drängender: Wann wird Thierry genug haben? Wann wird er sagen: Bis hierher und nicht weiter? Und wie wird das dann aussehen? Laut oder leise? Explosion oder Implosion?

Wir wissen all dies, weil wir es in seinem Gesicht lesen können. Und wir können all dies in seinem Gesicht lesen, weil Thierry von Vincent Lindon gespielt wird. Lindon, ohnehin ein Meister der subtilen, wortkargen Schauspielerei, gelingt mit dieser Figur etwas Besonderes, und verdientermaßen wurde seine Leistung im vergangenen Jahr in Cannes, wo »Der Wert des Menschen« seine Weltpremiere hatte, mit dem Preis für den besten Darsteller ausgezeichnet. Lindon stellt die passive Wahrnehmung Thierrys ins Zentrum seiner Charakterisierung, er verlässt sich auf die Ausdruckskraft seiner Augen und gestaltet mit minimalen Mitteln das komplexe Porträt eines einst tatkräftigen Mannes, der in die Enge getrieben wird, sich zunehmend seiner Stärke beraubt sieht und schließlich am Rande der Verzweiflung um Würde und Selbstbestimmung ringt. Sein nuanciertes Spiel wird von einer Bildgestaltung unterstützt, die jede Regung des Pro­tagonisten aufmerksam verfolgt; immer nah an Lindons Gesicht, entgeht Eric Dumonts semidokumentarisch geführter, dabei doch geschmeidig bewegter Kamera kein Aufblitzen von Verunsicherung, kein Aufflackern von Zorn, kein resigniertes Verlöschen von kurz überlegtem Widerstand. Bis die Frage am Ende nicht mehr nur lautet, wann Thierry genug haben wird, sondern auch welchen Wert er sich selbst zuschreibt. Bemessen wird der Wert des Menschen also schließlich am Preis der Selbstermächtigung, und der ist bekanntlich hoch.

... zum ausführlichen Interview mit Vincent Lindon

Meinung zum Thema

Kommentare

Der deutsche Titel trifft den Kern der Sache besser als der des Originals ‘Das Gesetz des Marktes‘. Das ist zu abstrakt und übersieht, dass hinter den in einem Kaufhaus gestohlenen Dingen ein Mensch steht. Und der ist nur als Kunde etwas wert.
Der 50-jährige Thierry (Vincent Lindon) verliert als Facharbeiter seinen Job. Bereits das Eingangsinterview macht die hochnotpeinliche Befragung und persönliche Erniedrigung durch das Arbeitsamt deutlich. Er kommt sich wie ein Bittsteller vor. Eine Umschulung wäre sinnloser Aktionismus. Sein Besitz wird erfasst: z.B. ein Wohnmobil, Thierry muss um wenige Euro feilschen, bleibt aber ruhig und versucht der Figur des Arbeitssuchenden so viel Empathie zu verleihen wie möglich. Er kann als Security in einem Supermarkt arbeiten und muss genau die Leute melden, die in einer ähnlichen Situation sind wie er. der Rentner, der das Fleisch nicht bezahlen kann, der Youngster, der ein Handy klaut oder eine Kollegin, die die Treuepunkte der Kunden auf ihr Konto umbucht. Sie begeht Selbstmord und das Management gibt ihr die Schuld daran. Die Peinlichkeit der Situation wird durch erdrückende Stille und wortloses Schweigen fast unerträglich. So auch als er einen Kredit über 2000,- € von der Bank will.
Die Laiendarsteller wirken ebenso wie die oftmals frei floatenden Dialoge äußerst authentisch. Und Regisseur Brizé (auch Drehbuch) setzt noch einen drauf, indem er Thierry einen behinderten Sohn zur Seite stellt. Einzige Frage bleibt, warum arbeitet seine Frau Karine nicht?
Und so gibt es auch am Ende keinen üblichen Schluss. Kann es nicht geben. Thierry geht die finale Abwärtsspirale einfach weiter, dankbar für jede Verschnaufpause. Aktueller als je zuvor und genauso wertvoll.

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