Interview mit Vincent Lindon zu »Der Wert des Menschen«

»Was wäre, wenn mir das passiert?«
Vincent Lindon in »Der Wert des Menschen«

Vincent Lindon in »Der Wert des Menschen«

Mit Gerhard Midding sprach Vincent Lindon über Stéphane Brizés engagiertes Sozial­drama »Der Wert des Menschen«, in dem Lindon einen Mann spielt, der seinen Job verliert – aber nicht seine Würde

Sie sind nicht nur Hauptdarsteller, sondern auch Produzent des Films. Lag Ihnen der Stoff so sehr am Herzen? Wäre er sonst vielleicht gar nicht realisiert worden?

Vincent Lindon: Nein, meine Beteiligung hat mit dem besonderen Verhältnis zu tun, das sich zwischen Stéphane Brizé und mir entwickelt hat. Wir sehen uns oft, sprechen oft miteinander, haben schon drei Filme zusammen gedreht – und es werden noch mehr werden. Eines Abends sah ich in den Nachrichten eine Reportage über die Arbeitswelt, die mich ziemlich schockiert hat. Ich fragte mich, ob man wirklich um jeden Preis das eigene Leid und das anderer in Kauf nehmen muss, um nicht seine Arbeit zu verlieren? Es traf sich, dass Stéphane seit längerem die gleiche Frage beschäftigte. Er schlug vor, ein Exposé von drei, vier Seiten zu schreiben. Seine Idee berührte mich ungemein. So gewann das Projekt eine Dringlichkeit. Er wollte einen Film mit kleinem Budget machen, den man schnell schreiben, drehen und schneiden kann. Ich brachte ihn zusammen mit dem Produzenten, mit dem ich kurz vorher »Welcome« gemacht hatte. Damit es schnell ging, stellten wir alle unsere Gagen zurück. Das ganze Team erklärte sich bereit, für das Gewerkschaftsminimum zu arbeiten. So konnten wir den Film mit acht Leuten in nur 17 Drehtagen fertigstellen.

Unglaublich. Ich nehme an, für Improvisationen blieb da nicht viel Zeit. Wie präzise war das Drehbuch ausgearbeitet?

Es war komplett ausgearbeitet, die Dialoge waren ganz präzise. ­Stéphane schickte es mir zehn Tage vor Drehbeginn, ließ es mich lesen und verlangte es vor dem ersten Drehtag wieder zurück. So etwas habe ich noch nicht erlebt, aber es trug zu dem Elan bei, den wir beim Drehen brauchten. Von da an schickte er mir jeden Abend eine Mail, in der er die Szenen für den nächsten Tag beschrieb. Am Set hat mich dann beeindruckt, dass er vor jedem Tag zu uns Darstellern sagte: Nehmt euch eure Zeit. Nicht: Nehmt euch Zeit. Sondern: Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht, um zu reagieren. Das ist absolut ungewöhnlich, so etwas habe ich weder von Alain Cavalier, Claire Denis noch von BenoÎt Jacquot oder Philippe Lioret je gehört.

Der Film ist sehr elliptisch erzählt. Zum Beispiel erfährt man nicht, wie Thierry nach langer Arbeitslosigkeit den Job als Wachmann bekommen hat. Wurden Szenen gekürzt?

Nein. Die Filme, die ich mag, stecken voller Ellipsen. Darin liegt für mich auch eine Lebensnähe. Nehmen Sie unsere Begegnung heute. Sie sagten eingangs, Sie hätten mich vor fünf Jahren schon einmal interviewt. Wir müssen uns aber nicht lange erzählen, was wir in der Zwischenzeit gemacht haben, das setzen wir uns im Kopf zusammen. Ich glaube, im Kino wird der Zuschauer durch solche Sprünge aufmerksamer, seine Fantasie ist stärker gefordert.

Dieses szenische Geworfensein passt gut zur Lebenssituation von Thierry, der Hauptfigur im Film.

Genau, als Zuschauer wird man ebenso wie er mit neuen Situationen konfrontiert und ist dadurch innerlich stärker beteiligt. Das liegt auch an der Art, wie Stéphane gedreht hat: Die Kamera kommt Thierry nie zuvor, sondern folgt ihm, fast wie in einer Reportage. Der Zuschauer entdeckt die Dinge im gleichen Tempo wie er. Wenn die Eltern beispielsweise in die Schule kommen, weiß man zu Beginn der Szene noch nicht, was der Lehrer ihnen über ihren Sohn sagen wird. Das ist ein Erzählprinzip, das bis zum Schluss durchgehalten wird.

Eine typische Szene, die glücklicherweise fehlt, wäre ein Moment gewesen, in dem Thierry erzählt, was in ihm vorgeht. In einem konventionelleren Film gäbe es eine Szene, in der er nachts seiner Frau anvertraut, was ihm tagsüber zugestoßen ist.

Ja, dieser Blick von außen macht die Stärke der Figur aus. Vielleicht habe ich auch den Preis in Cannes gewonnen, weil Thierry die Empathie der Zuschauer weckt. Er berührt sie auf besondere Weise. Weil er alles zurückhält, kann sich das Publikum stärker mit ihm identifizieren. Im Kino ist für mich das Wichtigste, nicht zu schauspielern, sondern zu verkörpern. Ich frage Regisseure nie, was in einem jeweiligen Moment in meiner Figur vorgeht. Wenn ich an einem Film arbeite, ist mir die Psychologie egal. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn mir so etwas passiert. In 17 Drehtagen bin ich an Thierrys Stelle getreten, habe durchlebt, was er durchlebt. Er hat meine Augen, meine Nase, meine Stimme. Ich trage seinen Schnurrbart. Es geht darum, eins zu werden mit den Qualitäten und Fehlern der Charaktere.

Beim Sehen hat mich immer wieder die Frage beschäftigt, wie Thierry so ruhig bleiben kann. Er erlebt ständig Situationen sozialer Demütigung, bleibt aber sehr beherrscht.

Er ist nicht beherrscht, sondern stark. Für mich besitzt er eine Unschuld, die ich verstehe. Er bewahrt sich seine Würde. Er kommt mit seinem Leben zurecht, liebt seine Frau und seinen Sohn. Er ist nicht stolz, aber stark. So kann der Zuschauer an meiner Stelle zornig werden. Ich musste oft an etwas denken, das mir in meinem Privatleben widerfahren ist. Als ich um die 40 war, wurde mir einmal übel mitgespielt, ich wurde von jemandem verraten und verletzt. Als ich mit meinem Vater darüber sprach, meinte er nur: »Das ist sein Problem.«

Weil der eigene Charakter für manche Menschen schon Strafe genug ist?

Genau. Sie müssen sich fragen, wie sie nachts schlafen können. Der innere Reichtum von Thierry liegt darin, dass er andere einschätzen kann.

Besonders hart fand ich das Vorstellungsgespräch per Skype, bei dem der Arbeitgeber ihm am Schluss höflich zu verstehen gibt, er habe wenig Chancen, den Job zu bekommen.

So etwas kommt in Frankreich oft vor. Ein Freund hat das am eigenen Leib erlebt. Diese Gespräche laufen ganz zivilisiert ab, aber die soziale Kälte schlägt am Ende erbarmungslos durch.

Der Film zeigt Thierry ständig in Situationen, in denen er hinzulernen muss. Als arbeitsloser 50-Jähriger muss er sein Leben praktisch neu beginnen. Sie spielen oft Männer in der Krise, etwa bei Coline Serreau oder in »Der siebte Himmel«. Tun Sie das gern?

Das ist keine bewusste Wahl, aber ich glaube, mir gefällt die Dynamik, die in diesen Situationen steckt. Es ist vielleicht gar nicht so falsch, wenn man heutzutage nicht von Problemen, sondern He­rausforderungen spricht.

Im ersten Teil des Films besteht Thierrys Handeln fast ausschließlich im Sprechen. Sonst spielen Sie eher gestische Rollen. Sie sind sogar bekannt dafür, ihre Regisseure um Dialogkürzungen zu bitten.

Das sind Dinge, die man erst entdeckt, wenn man in Interviews befragt wird. Beim Drehen ist mir das nicht bewusst und auch nicht wichtig. Aber Sie haben recht: Im zweiten Teil spreche ich weniger, da bin ich eher Beobachter und Zeuge. Instinktiv ist das gewiss in mein Spiel eingeflossen. Das kann ich aber nur am Konkreten festmachen, an der Art, wie ich mich bewege, an dem, was ich trage, wie ich blicke. Es ist egal, ob ich in einer Szene an meine Stromrechnung denke. Hauptsache ist, man sieht, was die Figur empfindet.

Das ist hier eine kontinuierlich spannende Frage. Was geht Thierry beispielsweise bei der Beerdigung seiner Kollegin durch den Kopf?

Thierry hat die Frau nicht gut gekannt. Aber dennoch spürt er eine Verpflichtung. Ich habe beim Dreh an irgendetwas Persönliches gedacht. Ich wusste, dass der Sarg leer ist. Aber die Kamera hat etwas anderes eingefangen.

Ja, für mich als Zuschauer war er nicht leer.

Weil die Kamera es Ihnen mitteilt! Wenn ich nicht an diesen filmischen Moment glauben würde, täten Sie es auch nicht. Wenn ein Schauspieler seine Figur und deren jeweilige Situation nicht akzeptiert, ist alles verloren. Am schlimmsten ist es, wenn ein Schauspieler sich schützen will: Seht her, meine Figur mag vielleicht dumm sein, aber ich bin es nicht! Schauen Sie sich Ralph Fiennes in »Schindlers Liste« an: Wenn er sich von der Figur des KZ-Kommandanten distanziert hätte, wäre er gescheitert. Oder Joaquin Phoenix in »Gladiator«: Wenn er als Imperator Commodus nicht bereit gewesen wäre, dessen Schwächen zu akzeptieren, hätte der Film nicht funktioniert. Wir müssen das Monströse in unseren Figuren annehmen. Als Schauspieler darf man keine halben Sachen machen, da muss man Risiken eingehen.

Diese Glaubwürdigkeit ist ein Talent, das ich sehr an Ihnen bewundere. Sie mögen unterschiedliche Charaktere spielen – einen Premierminister in Pater, einen Bademeister in »Welcome« oder einen Maurer in »Mademoiselle Chambon« –, aber Sie sind in diesen Metiers immer plausibel. Ist das Ihre Priorität beim Spiel?

Eine Priorität? Nein, das ist die Essenz meines Berufs. Das ist so wichtig wie das Atmen. Schauen Sie nur einmal, wie in »Der Wert des Menschen« die soziale Schicht evoziert wird, der Thierry angehört. Er fährt einen Renault, der nicht mehr neu ist, aber noch gut in Schuss. Er trägt keinen Fünftagebart, er passt auf sein Äußeres auf. Wenn er keine Arbeit hat, putzt er die Wohnung. An diesen Details kann ich mich festhalten; wie ich spreche, mich bewege oder kleide, hat umfassende Auswirkungen auf den Film. Wenn ich einem Schauspieler nicht glaube, gehe ich aus dem Film raus.

Haben Sie viel recherchiert?

Nein, ich versetze mich immer nur in die Figur. Ich verbringe mein Leben damit, die Leute zu beobachten. Wie jetzt hier gerade im Café. Wenn ich zusehe, wie die Leute das Besteck beim Essen halten, kann ich Ihnen augenblicklich sagen, welcher Schicht sie angehören. Ein Mitglied der Provinzbourgeoisie schneidet das Fleisch anders als ein Aristokrat oder ein Unternehmer, der aber eigentlich aus einer Handwerkerfamilie stammt. So etwas interessiert mich. Ich muss nicht lange recherchieren, wie sich ein Wachmann in einem Supermarkt verhält, das habe ich tausendmal gesehen. Die sprechen nicht direkt in ihr Funkgerät, sondern halten es leicht schräg. Also mache ich das ebenso.

Vielleicht werden Sie deshalb so oft in Gegenwartsgeschichten und so selten in Kostümfilmen besetzt?

Manchmal kommt es aber schon vor. Vor einiger Zeit habe ich Dr. Charcot gespielt, den Lehrer Freuds, der mit Hypnose experimentierte. Und im April soll ich Auguste Rodin spielen.

Wieder ein Metier, in dem das Gestische wichtig ist!

Ja, ich freue mich schon darauf, was ich mit meinen Händen anstellen kann.

Wenn man sich Ihre Filmografie anschaut, fällt auf, dass Sie die Arbeit mit einigen Regisseuren gern fortsetzen: mit Coline Serreau, Claire Denis, Pierre Jolivet, Benoît Jacquot. Ich habe den Eindruck, dass es zwischen Ihren Filmen mit Stéphane Brizé intime Verbindungen gibt. Sie erzählen unterschiedliche Geschichten, aber es gibt Motive, die sich durchziehen. Ich denke an die Szene in »Mademoiselle Chambon«, in der sie die Füße Ihres Vaters waschen.

Oh, die Szene habe ich geliebt!

...ein Moment, der mich zu der Fürsorge Ihrer Figur für die todkranke Mutter im nächsten Film, »Der letzte Frühling«, führt.

Und hier setzt sich das fort in der Szene, in der der Vater dem Sohn beim Baden hilft. Das ist tatsächlich ein wichtiges Bindeglied: ­Stéphane mag es, wenn seine Figuren andere pflegen. Es ist großartig, so etwas zu spielen.

Aber in jedem Film betrachtet die Kamera Sie anders. In »Der Wert des Menschen« werden Sie fast von ihr observiert. Ich denke beispielsweise an die Szene, in der das Video eines Vorstellungsgesprächs von den anderen Arbeitslosen diskutiert wird.

Die Szene habe ich ungeheuer gemocht. Das waren alles nichtprofessionelle Darsteller, die gewissermaßen Vincent Lindon kritisieren. Das war hart, das haben wir zwei Mal gedreht.

Entsteht bei der Arbeit mit Laien mehr Unvorhersehbares?

Nein, das Unvorhergesehene liegt in der Konstruktion des Films, dem Aufbau der Szenen. Für das Spiel machte es keinen Unterschied: Ich habe ja ein Gegenüber, auf das ich reagieren kann. Wenn man sich hundertprozentig auf eine Szene einlässt, vergisst man, ob man es mit einem Profi zu tun hat oder nicht. Man muss den Moment erleben. Als ich mit Sandrine Kiberlain »Mademoiselle Chambon« gedreht habe, hatte ich nicht im Hinterkopf, dass wir einmal zusammengelebt haben. Für mich war sie die Lehrerin, die sie verkörpert.

In »Der Wert des Menschen« kennen Ihre Partner die Berufe, die sie darstellen, sehr genau. Es sind Kassiererinnen, Wachmänner oder Beamte, die gewissermaßen sich selbst spielen.

Das hat ihnen natürlich sehr geholfen, hat ihnen die Angst genommen. Sie konnten sich daran festhalten, dass sie wissen, wie diese Situationen verlaufen. Die Szene im Arbeitsamt haben wir in dem Büro gedreht, in dem mein Partner arbeitet. Er konnte sich zu Hause fühlen. Wichtig war auch, dass die Szenen in einer einzigen Einstellung gedreht sind. Es gibt keinen Schnitt, keine Pause, in der man an etwas anderes denkt. Wir sind im gleichen Bild, der gleichen Situation gefangen. Mit einem Schnitt wäre das eine Konfrontation geworden: in einer Einstellung Vincent Lindon, der Profi, und in der nächsten ein Laie. So aber bekommt der Zuschauer unbewusst mit, dass wir im gleichen Boot sitzen.

Thierrys sozialer Werdegang ist interessant. Anfangs steht er als Arbeitsloser am Rand der Gesellschaft, als Wachmann hingegen scheint er in deren Zentrum angekommen.

Daran denkt man beim Drehen nicht. Ich wäre verloren, wenn ich mir all das bewusst machen würde. Die wichtigen Entscheidungen im Leben trifft man instinktiv. Oft wird einem erst später klar, was man da gemacht hat. Man heiratet, bekommt Kinder, zieht um oder wandert aus und fragt sich dann später: Habe ich das wirklich getan? Woher habe ich die Energie dafür genommen? Wenn man in dem Moment alle Konsequenzen bedacht hätte, hätte man es vielleicht nie getan. Das ist bei einer Rolle genauso. Wenn ich gewusst hätte, welche Wirkung dieser Film haben würde, hätte mich das bestimmt gelähmt. Würde ich mir im Vornherein überlegen, was es bedeutet, Rodin zu spielen, würde ich es womöglich nie wagen. Es gibt tausend Gründe, ihn nicht zu spielen.

Dazu fällt mir etwas ein, was Gérard Depardieu unlängst in einem Interview über Sie sagte: »Er versucht jedes Mal, ein leeres Blatt zu sein. Er ist immer noch überrascht, ein Schauspieler zu sein.« Ist das ein vergiftetes oder ein echtes Kompliment?

Ich bin sicher, er meinte es ernst. Das war für mich wie ein Ritterschlag, denn ich schätze ihn als Schauspieler und Menschen sehr. Dieses unglaubliche Leben, das er führt, diese ungeheure Maßlosigkeit, kann ich hinter jeder seiner Rollen entdecken. Nein, darüber habe ich mich sehr gefreut. Er sagte übrigens nicht »überrascht«, sondern »erstaunt«. So etwas habe ich über mich noch nie gehört. Aber das versuche ich bei jedem Film. Es ist mein großes Glück, jedes Mal wieder bei null beginnen zu können.

»Der Wert des Menschen« (La loi du marché), startet am 17. März

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