Kritik zu Das Hamlet Syndrom

© Real Fiction Filmverleih

Die in Berlin lebenden Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski dokumentieren ein ukrainisches Theaterprojekt und zeichnen so ein Porträt der jungen ukrainischen Generation, die durch Krieg und politische Umwälzungen gezeichnet ist

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»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«. Diesen Satz kennt selbst, wer noch nie »Hamlet« gesehen hat. Im dritten Akt des Dramas lässt Shakespeare den Prinzen von Dänemark so den berühmten Monolog beginnen über die Frage, ob es leichter ist, das eigene Schicksal oder den Tod zu ertragen. Nur wenige Monate bevor Russland im Februar die Ukraine überfallen hat, begann in Lemberg ein Theaterprojekt mit dem Titel »H-Effect«. Darin verarbeiteten fünf junge Menschen aus der Ukraine ihre traumatischen Gewalterfahrungen während der Maidan-Revolution 2013 und des kriegerischen Konflikts im Osten des Landes. 

Die Motive aus dem Shakespeare-Stück sowie Heiner Müllers reflexive Weiterentwicklung »Die Hamletmaschine« dienen als Vorlage und Grundgerüst, zu dem sie ihr eigenes Leben in Beziehung setzen. ­Unter Anleitung der jungen Regisseurin Rosa Sarkissjan proben sie 40 Tage lang, die Bühne wird zur Plattform, um sich mit der eigenen Trauer, Ohnmacht und Wut zu konfrontieren. Eine für die Teilnehmenden wie das Publikum gleichermaßen bewegende und aufrüttelnde Auseinandersetzung, als Gruppentherapie psychischer Wunden und als Theaterprojekt, das die Erfahrungen der Teilnehmer in das öffentliche Bewusstsein bringen soll, in der Ukraine, aber auch international. 

Den aufreibenden Probenprozess beobachten die beiden Filmemacher Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski und zeichnen in ihrem Dokumentarfilm »Das Hamlet-Syndrom« so das Porträt einer jungen Generation von Ukrainer*innen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren wurden, von den politischen Umbrüchen geprägt und vom Krieg gezeichnet sind. Die Auseinandersetzung ist nicht rein intellektuell, sondern vor allem spielerisch. Dem in einem geschützten Rahmen Raum zu geben, erweist sich als fruchtbar, weil sie hier ihre Erfahrungen in der Revolution und im Krieg aufarbeiten und dabei verdrängte und unterdrückte Emotionen zulassen können, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. 

Den Fokus des Films erweitern Gespräche mit Familienmitgliedern und anderen Opfern politischer Gewalt im Land, die »Das Hamlet-Syndrom« zu einem vielschichtigen Bild der Verfasstheit der ukrainischen Gesellschaft abrunden. Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski, beide in Polen aufgewachsen, leben und arbeiten seit vielen Jahren in Berlin. Kennengelernt haben sie sich beim Dreh des Dokumentarkurzfilms »Mauerhase«, der 2010 für den Oscar nominiert war. »Das Hamlet-Syndrom« ist ihr dritter gemeinsamer Langfilm. In Locarno, wo er im August Premiere feierte, wurde er mit dem Grand Prix der Sektion »Semaine de la critique« ausgezeichnet. Am Ende der Proben führte die Gruppe »H-Effect« in Lemberg auf, wenn auch wegen des Lockdowns vor einem leeren Saal. Doch mehr als 10 000 Ukrainer*innen schauten online zu. Nach dem Ende der Dreharbeiten kam der Krieg. Drei der fünf Darsteller kämpfen inzwischen für ihr Land. Und die Wunden der Vergangenheit brechen erneut auf.

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