Dokumentarfilm – In einer Welt der Krise

»Die Möllner Briefe« (2025). © inselfilm produktion

»Die Möllner Briefe« (2025). © inselfilm produktion

Der Dokumentarfilm zeigt sich politisch aktuell, ­ästhetisch und narrativ vielfältig. Über Ländergrenzen hinweg schlägt er sich auf die Seite der Betroffenen von Rassismus, Krieg und historischer Ungerechtigkeit
 

Der jährlich vom Haus des Dokumentarfilms mit der MFG Baden-Württemberg veranstaltete Branchentreff für den deutschen Dokumentarfilm in Stuttgart war nach »Diversität« und »Krieg und Desinformation« dieses Jahr dem Schwerpunkt »Rechtsruck Deutschland – Dokumentarische Positionen« gewidmet. Mit Letzteren waren bei »Dokville« (neben Auftritten unter anderem von Michel Friedman und Campino) in den filmbezogenen Panels vor allem ARD-eigene Fernsehproduktionen gemeint, wie der SWR-Dreiteiler »World White Hate« unter der Regie von Dirk Laabs, der das nicht ganz gelungene Wagnis vornimmt, Opfer und Täter rechtsextremer Gewalttaten in einem Film zusammenzubringen. Der im März dieses Jahres versendete ARD-90-Minüter »Masterplan« von Volker Heise referiert das rechtsextremistische »Potsdamer Treffen und seine Folgen« im November 2023, dessen Aufdeckung durch das Recherchekollektiv Correctiv zwei Monate später bundesweite Straßenproteste animierte. »Jamel – Lauter Widerstand« (NDR, Martin Groß, Sendetermin 27.11.2024) ist der erste lange Dokumentarfilm über das mecklenburgische Dorf, wo ein Künstlerpaar seit zwei Jahrzehnten den neonazistischen Nachbarn trotzt und schon fast so lange jedes Jahr ein zunehmend erfolgreiches antifaschistisches Musikfestival auf die Bühne stellt. Auch »World White Hate« widmet übrigens seinen dritten Teil dem Widerstand.

In einer »Case Study« in Stuttgart zu Gast waren auch zwei Filme, die diesen Monat in den deutschen Kinos starten Martina Priessners »Die Möllner Briefe« und »Das Deutsche Volk« von Marcin Wierzchowski befassen sich kritisch mit den rassistischen Mordanschlägen von Hanau am 19. Februar 2020 und in Mölln am 23. November 1992, wo Mitarbeiter der Stadt stapelweise Solidaritätsbriefe unterschlugen, die empathische Menschen an die Opfer geschrieben hatten. Beide Filme hatten durch ihre Uraufführung dieses Jahr auf der Berlinale schon vor dem Start eine breite Öffentlichkeit bekommen.

Die thematische Ballung ist kein Zufall. Sicherlich gab es auch in den letzten Jahrzehnten schon starke (und oft umstrittene) Filme zu Rassismus und Rechtsextremismus, erwähnt seien nur Thomas Heises »Stau – jetzt geht's los« (1992) oder »Beruf Neonazi« von Winfried Bonengel (1993). Auch der NSU-Komplex provozierte dokumentarische Stellungnahmen. Unübersehbar ist aber in den aktuellen Filmen eine neue, aus den verschärften politischen Realitäten gewachsene Dringlichkeit; es verbreitet sich die ungemütliche Erkenntnis, dass ihre zunehmend extremistischen Positionen der AfD eher nutzen als schaden und so möglicher Einfluss auf die gesetzgeberische Macht eine reale Bedrohung geworden ist.

Neu ist auch die Wendung des Interesses von den Tätern zu den durch die rassistische Gewalt getroffenen Opfern, Überlebenden oder hinterbliebenen Freunden und Angehörigen (auch wenn es das etwa in »Der Kuaför aus der Keupstraße« von Andreas Maus oder Aysun Bademsoys »Spuren – Die Opfer des NSU« in den 2010ern schon gab). Dabei ist diese von Filmproduktion und Regie aufgenommene Perspektive weniger motiviert von den aus der Politik erhobenen Forderungen nach mehr Opferschutz als vom wachsenden Selbstbewusstsein junger Menschen der gesellschaftlich ausgegrenzten Sektoren. Mit beigetragen zu deren gestärkter zivilgesellschaftlicher Positionierung hatten sicherlich die Wut über den Rassismus der Ermittlungen zu den NSU-Morden und Erfahrungen mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, deren Parole »Say their names« seit den neunfachen Morden in Hanau auch in Deutschland die politisch bewusste Sprechpraxis prägt. Im Bereich Dokumentarfilm wiederum ist in den letzten Jahren bei jungen FilmemacherInnen im Nachgang feministischer Sensibilisierung (#MeToo) auch Einsicht in den respektvollen Umgang mit ProtagonistInnen allgemein gewachsen.

Zu denen, die in den letzten Jahren zunehmend ihre Stimmen erheben, gehören auch die ehemals Kolonisierten. So etwa die tansanischen Familien Kaaya und Mbano, die sich über hundert Jahre nach den Morden an ihren Urgroßvätern durch die deutsche Kolonialarmee auf die Suche nach deren damals für rassistische Forschungen in die kolonialen Machtzentren verbrachten Schädel machen. Also reisen John und Ehefrau Cesilia Mbano irgendwann im Auftrag ihrer Familie nach Berlin, um dort die schmerzlich vermissten Gebeine ausfindig zu machen und eventuell zurückzuholen. Unterstützt werden sie dabei von den Berliner Aktivisten Mnyaka Sururu Mboro und Konradin Kunze. Auch in der Regie von »Das leere Grab« arbeiten die jungen Regisseurinnen Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner als tansanisch-deutsches Team zusammen, um — wie sie sagen – mit ihrem Film auch postkoloniale Heilungsprozesse auf den Weg zu bringen. Dabei wird in »Das leere Grab« die Geschichte der kolonialen deutschen Vergangenheit mit ihrer oft verstörenden Gewalt den Zuschauern indirekt über eindrucksvolle Schulstunden in Tansania und Berlin vermittelt. (Der Film lief im Special der Berlinale 2024, hatte im Mai 2024 deutschen Kinostart und ist auf DVD erhältlich.)

Während »Das leere Grab« sich so vorzüglich auch zur pädagogischen Geschichtsvermittlung eignet, kommt ein anderer Film mit postkolonialem Topos in seiner Ästhetik eindrucksvoll komplex daher, verweigert aber – ganz im Sinn dieser Kunst – fast trotzig erklärende Erläuterungen. Der Filmessay »Dahomey« der frankosenegalesischen Regisseurin Mati Diop begleitet die Restitution von sechsundzwanzig Königsstatuen, die 1892 von französischen Kolonialisten aus dem damaligen Königreich Dahomey nach Paris verschleppt wurden. Es ist eine auch von der Regierung in Benin kunstvoll inszenierte Heimreise, im Film poetisch kommentiert von einer der Figuren mit einer synthetisch produzierten Grabesstimme, mit der sich Diop bewusst jeder Folklorisierung widersetzt. Daneben inszeniert die Regisseurin als Forum reflektierender Selbstvergewisserung eine öffentliche Debatte unter sorgfältig gecasteten StudentInnen im Audimax. »Dahomey« richtet sich in der Sprache Fon ausdrücklich an das heimische Publikum in Benin, hat aber 2024 auf dem internationalen Filmfestival von Berlin (als zweiter Dokumentarfilm in Folge) den »Goldenen Bären« gewonnen.

Dass der nur 60-minütige Filmessay überhaupt in den Wettbewerb des Festivals eingeladen wurde, sollte als programmatisches Statement für mehr filmische Diversität auch an diesem Platz verstanden werden. Dass die unter anderem mit der Hongkong-Kinoveteranin Ann Hui und Christian Petzold hochkarätig besetzte internationale Jury unter Präsidentin Lupita Nyong'o ihn dann mit dem Hauptpreis auszeichnete, ist ihre autonome künstlerische Entscheidung – die aber sicherlich auf die Emanzipation des Dokumentarischen im Kanon der Filmformen hinweist.

In Sachen Juryautonomie machte der damalige (mittlerweile aus anderen Gründen zurückgetretene) Berliner Kultursenator Joe Chialo im gleichen Jahr wegen der Entscheidung der Dokumentarfilmjury für den umstrittenen norwegisch-palästinensischen Film »No Other Land« (über den andernorts schon genug gesagt wurde) eine beunruhigende Ankündigung: Denn er nannte als aus dieser Jury­entscheidung zu ziehende Konsequenz, für die Zukunft »zu überlegen, wie die Jurys besetzt sind. (. . .) Denn von den Jurys aus werden (. . .) bestimmte Diskurse angeschoben, bestimmte Filme in den Vordergrund gerückt«. So zitierte ihn der über diese Forderung nach politischen Eingriffen erzürnte Thomas Heise als Mitglied der betroffenen Jury in einem letzten Interview vor seinem Tod am 29. Mai letzten Jahres. 

Der kleine Exkurs soll darauf hinweisen, wie es manchmal ganz individuelle Entscheidungen sind, die in unterschiedlichen Sektoren den Umgang mit Filmen und ihre spezifische Sichtbarkeit bestimmen: Von der Filmemacherin über Fördergremien, Verleih, Kinobetreiber, Festivalkuratorinnen bis zum Kinobesucher am Ende. Von denen haben nämlich im Jahr 2024 ungefähr 180 000 einen Film über eine Hamburger Miniatur-Eisenbahnanlage gesehen: Ein Umstand, der »Wunderland – Vom Kindheitstraum zum Welterfolg« (nach dem als Kinderfilm außer Konkurrenz laufenden »Checker Tobi« mit 1 326 000 Zuschauenden bisher) kurioserweise zum meistgesehenen deutschen Dokumentarfilm des Jahres 2024 machte. Danach erst folgen auf der deutschen Filmhit-Jahresliste der Filmförderungsanstalt FFA mit 116 000 Tickets »Riefenstahl«, Charly Hübners »Element of Crime – Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin« (98 000) und mit »Die Unbeugsamen 2« (69 000) das diesmal der DDR gewidmete Sequel über Frauen in deutscher Politik und Gesellschaft. Auf Platz 58 der Charts – durchaus beachtlich, da es sich ja um offizielle Kinozahlen der FFA handelt – findet sich mit der Kollektivarbeit »Antifa – Schulter an Schulter« (33 000, Produktion und Regie: Leftvision) ein aktivistischer Film über die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte Antifa in Deutschland, der sich allerdings etwas zu sehr an der Polizei als Zweitgegner (neben den Nazis) statt an gesellschaftlichen Machtstrukturen festmacht.

Strukturen von Präsenz und Sichtbarkeit im Dokumentarfilm sind extrem unübersichtlich und neben dem oben angesprochenen Festival- und Kinoeinsatz von TV-Sendeplätzen, Streamingauffindbarkeit und Preisen der unterschiedlichsten Levels bestimmt. So erhielt etwa »My Stolen Planet« von der nach einem Stipendienaufenthalt durch politische Ereignisse ihrer Heimat ins Hamburger Exil gezwungenen iranischen Filmemacherin Farahnaz Sharifi mit seiner großartigen Mischung aus persönlichem Kommentar, Home-Movie-Material und dokumentierten Straßenszenen über 22 Auszeichnungen von Bilbao bis Taiwan. Die »Goldene Taube« im deutschen Wettbewerb von Leipzig ging für ihre eigensinnige feministische Interpretation anthropologischer Spurensuche an Anja Dreschke und Michaela Schäuble für ihren Debütfilm »Tarantism Revisited«. Dann gibt es noch große Filme ganz unter dem offiziellen Radar wie »Vom Ende eines Zeitalters« von Christoph Hübner und Gabriele Voss, der als Resümee eines dokumentarischen Langzeitprojekts zur ehemaligen Zeche Ebel in Bottrop exemplarisch von den historischen Verschiebungen erzählt, die heute die politisch prekäre Situation in vielen Teilen Europas bestimmen. Übrigens zeigt die Arbeit der beiden altgedienten Dokumentaristen auch, dass der respektvolle Umgang mit den Menschen (die die beiden nie Protagonisten nennen würden) in diesem Beruf eigentlich zum traditionellen Wertekanon gehört.

Das deutsche Kino lebt nicht isoliert. Und die rechten und autoritären Entwicklungen sind bekanntermaßen nicht national beschränkt. Die Folgen dieses Trends, die Echos auch der Kriege in der Ukraine und Gaza finden sich im internationalen Dokumentarfilm wieder. Ein trauriger Kollateralschaden ist dabei, dass Filme zur globalen Klimaerhitzung als einem der dominanten Dokthemen der letzten Jahrzehnte nach »An Inconvenient Truth« 2006 (Regie Davis Guggenheim) mit Ex-US-Vizepräsident Al Gore als Host fast gänzlich vom Feld verschwunden sind. Gut ablesen lässt sich dieser Paradigmenwechsel an den von der Filmindustrie selbst vergebenen Oscars zum Dokumentarfilm (auch wenn die Art ihrer Nominierung zu Recht kritisiert wird). Da markiert die Auszeichnung für den südafrikanischen Film »My Octopus Teacher« (Pippa Ehrlich und James Reed) 2021 deutlich das Ende des weltumfassenden, positiv ausstrahlenden Ökofilms; interessanterweise weist der Film dabei als Netflix-Produktion auch auf jüngere mediale Verschiebungen von der klassischen Film- und TV-Produktion zum Streaming hin.

Das Thema »Krieg« dagegen hat in den letzten Jahren den Dokumentarfilm verstärkt beschäftigt, aus nachvollziehbaren Gründen. Unmittelbar nach dem Überfall Russlands auf das Hauptterritorium der Ukraine im Februar 2022 drehte der damals schon mehrfach ausgezeichnete Fotograf und Kriegsberichterstatter Mstyslav Chernov mit seinen KollegInnen als einzige vor Ort zurückgebliebene Berichterstatter in der heftig angegriffenen und von russischen Truppen belagerten Hafenstadt Mariupol wochenlang den grausamen Alltag, bevor sie die Stadt im März heimlich mit Hilfe der ukrainischen Armee verlassen mussten/konnten. Der mit einem persönlichen Kommentar unterlegte Film »20 Tage in Mariupol« kam 2023 in die Kinos und errang 2024 nach vielen anderen Auszeichnungen auch den Dokumentarfilm–Oscar, der schon im Jahr zuvor mit der US-Produktion »Nawalny« an einen Film mit einem russland-kritischen Sujet gegangen war. Bei der diesjährigen Berlinale waren in Wettbewerb und Forum dann drei lange Dokumentarfilme zu sehen, die sich mit der Situation in der Ukraine jenseits journalistischer Frontberichterstattung befassen (übrigens alle bisher ohne Kinoauswertung). Während »Timestamp« von Kateryna Gornostay mosaikartig die Versuche nachzeichnet, unter der alltäglichen Bedrohung einen Schulalltag aufrechtzuerhalten, gehen die beiden Filme des Internationalen Forums in die Heimatorte ihrer RegisseurInnen – nach Lviv in »Time to the Target« von Vitaly Mansky und mit Eva Neymans »When Lightning Flashes Over the Sea« nach Odessa als persönlich-poetische Hommage an Charaktere, Stadtlandschaften und eine Straßenbahn.

Auf dieser Berlinale waren mit »A Letter to David« (Tom Shoval) und »Holding Liat« (Brandon Kramer) bedingt durch die längeren »Inkubationszeiten« beim Filmemachen auch die ersten Arbeiten zu sehen, die den Schock durch den Überfall der Hamas vom 7. Oktober filmisch reflektierten, wobei »Holding Liat« als intimes Porträt einer durch die Entführung eines Kindes getroffenen israelischen Familie viele besonders berührte. Die Machenschaften der zweiten Amtszeit von US-Präsident Trump konnten aus ähnlichen produktionszeit-technischen Gründen bisher noch keinen dokumentarischen Niederschlag jenseits schnell produzierter Reportagen und TV-Stücke finden. Es wird also spannend sein, zu sehen, ob und wann solche Filme unter dem aufgebauten politischen und ökonomischen Druck kommen, wie sie aussehen – und wo sie gezeigt werden können.

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