Kritik zu Alpen

© Rapid Eye Movies

Wie verarbeiten wir den Verlust eines geliebten Menschen? Die »Alpen« wissen Rat und schicken uns einen schlechten Schauspieler, der seine Rolle einnimmt

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Mit Dogtooth hat der 1973 geborene Regisseur Giorgos Lanthimos ganz ungeahnte Erfolge gefeiert, gekrönt von einer Oscarnominierung im vergangenen Jahr, und so die Aufmerksamkeit auf jenes neue griechische Kino gelenkt, das mit genuin künstlerischer Handschrift und rigoroser Eigenwilligkeit überzeugt. Direkt nach Athina Rachel Tsangaris Attenberg, der aus dem gleichen umtriebigen Kreativkollektiv HAOS Film kommt wie Lanthimos‘ Werke, startet nun auch dessen neues Werk Alpen.

Was sein Irritationspotenzial angeht, steht er seinem Vorgänger Dogtooth in nichts nach: Wieder steht ein merkwürdiges soziales Konstrukt im Mittelpunkt. War es in Dogtooth eine Familie, die vom Vater in hermetischer Abgeschlossenheit von der Außenwelt gehalten wurde, ist es hier eine Art klandestines Kollektiv von vier Menschen, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die Rollen Verstorbener einzunehmen. Von den Hinterbliebenen lassen sie sich als Dienstleister engagieren, kommen immer wieder für einige Stunden in deren Häuser und spielen den Part der verlorenen Geliebten, der Tochter oder des Freundes in meist alltäglichen Szenen nach. Dann tragen sie die Kleider der Toten und sagen typische Dialogzeilen auf. Die künstliche Wiederbelebung von Erinnerungen als Mittel gegen den Schmerz des Verlusts.

»Alpen« benennt ihr Anführer, ein Rettungssanitäter, die Gruppe, denn erstens ahnt niemand, was sich hinter der Bezeichnung verbergen könnte, und zweitens, symbolisch betrachtet, sind die Berge der Alpen genauso unersetzbar wie geliebte Menschen. Für sich selbst reklamiert er den Namen »Mont Blanc«, da dieser der höchste Berg ist, und demonstriert damit zugleich, wer hier das Sagen hat. Denn in dieser Gruppe herrschen strikte Regeln, und im Lauf des Films wird sich zeigen, mit welcher Härte Verstöße geahndet werden.

Die Krankenschwester »Monte Rosa«, wunderbar gespielt von Aggeliki Papoulia, wird gegen diese Regeln verstoßen, indem sie nicht nur intime Beziehungen mit Klienten eingeht, sondern sogar einen neuen »Fall« verschweigt und ohne Wissen der Gruppe die Rolle eines in ihrem Krankenhaus verstorbenen Mädchens in deren Familie einnimmt.

Mit gefährlicher Ruhe entfaltet Lanthimos seine Geschichte, porträtiert seine Alpen, die ihre heimlichen Treffen in einer Turnhalle abhalten, in absurden Miniaturen, die aus Stücken von Beckett oder Ionesco stammen könnten. Er lässt einige Szenen zunächst als kontextlose Rätsel stehen, bis sie im Rückblick verständlich werden, und verstärkt den Eindruck des Parabelhaften mit durchkomponierten, meist statischen Bildern. Zu Beginn des Films stehen dabei noch das Bizarre der Versuchsanordnung und der fein-verschrobene Humor im Vordergrund: eine Bizarrerie, die aus einer scheinbar realistischen Welt hervorwuchert, und ein Humor, der das Absurde in den Tiefen des Schmerzes findet. Zum Beispiel als »Monte Rosa« das nach einem Autounfall schwerverletzte Mädchen am Krankenbett besucht. Sie drückt der Bewegungsunfähigen einen Tennisschläger in die Hand und wirft ihr Bälle zu, die auf dem versehrten Körper landen. Oder beim Reenactment für die Trauernden, wenn die Rollenspieler – als Schauspieler eher minderbegabt – emotionalste Sätze runterleiern wie Roboter.

Im Lauf der Ereignisse verschiebt sich der Fokus nun aber immer mehr auf »Monte Rosa « und ihr Innenleben, und damit wird Alpen zu einer Tragödie. Denn die junge Frau versucht in ihren Stellvertreterspielen, ein sehr persönliches Bedürfnis nach Nähe und tiefen Gefühlen zu stillen. Als ihr »Verrat« an der Gruppe auffliegt, wird ihr Klammern an diese Rollen immer verzweifelter – ein grotesker Kampf um wahre Gefühle in lauter falschen Leben.

Obwohl Alpen nicht ganz die Kraft von Dogtooth erreicht, hat Giorgos Lanthimos seinen unverkennbaren Stil hier weiter verfeinert. Mit diesem Film, hinter dessen Kunst man immer auch die Wirklichkeit einer krisengeschüttelten Gesellschaft ahnt, ist ihm eine vielschichtige Studie über Identität, Konvention und autoritäre Mechanismen gelungen. Und ein faszinierendes Bild von Ritualen des Festhaltens, der Beschwörung und der Wiederholung dessen, was doch verloren ist.

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