Kritik zu Alice und das Meer
Lucie Borleteau erzählt in ihrem Regiedebüt von einer Schiffsmechanikerin und einer Odyssee im doppelten Sinne – mit untrüglichem Gespür für Milieu und Atmosphäre
Ihre innige Beziehung zum Meer machen schon die ersten Bilder sichtbar: Fast selbstvergessen wirkt Alice beim Schwimmen in sonnenbeschienenen Wogen, ganz für sich und eins mit dem Element. Doch schon in der nächsten Szene wirkt der Ozean düster: Da schält sich die Silhouette eines Frachters einem gigantischen Seeungeheuer gleich aus der Morgendämmerung.
»Fidelio« heißt das Schiff, wie Beethovens Oper um die unbeirrbare Treue einer Liebenden. Auf ihm wird Alice als zweite Schiffsmechanikerin die kommenden Monate zwischen den Kontinenten unterwegs sein – ihre erste große Fahrt in der Handelsmarine. An Land lässt sie Felix zurück, mit dem sie eine leidenschaftliche Liebe verbindet. Doch für die Beziehung wird diese Fahrt zu einer Prüfung, denn der Erste Offizier der Fidelio ist ausgerechnet Gael, Alices erste große Liebe. Und es bleibt nicht bei dem einen Kuss der Wiedersehensfreude. Bald nutzen die beiden ihre freien Stunden auf See für heimliche Rendezvous. »Was auf dem Meer geschieht, bleibt auf dem Meer«, sagt sich Alice, doch das erweist sich als Illusion.
Von der wieder aufflammenden Leidenschaft könnte man auch reichlich platt erzählen. Doch neben, mit und in diesem Plot entfalten sich so nüchtern wie poetisch weitere Ebenen, die sich ineinander spiegeln und einander überlagern, bisweilen auch kollidieren. »Alice und das Meer« ist ein ambitioniertes Werk, voll von kulturgeschichtlichen Bezügen – dabei aber weder so prätentiös wie der Originaltitel »Fidelio, l'odyssée d'Alice« vermuten lässt, noch so simpel-gefällig, wie es der deutsche Titel suggeriert.
Die konzentrierte Inszenierung mit ihrer Aufmerksamkeit noch für die scheinbar nebensächlichsten Details sowie Bilder von graphischer Schönheit verleihen diesem Geflecht aus Erzählebenen eine bemerkenswerte innere Spannung. So findet Alice in ihrer Kabine das Tagebuch ihres verstorbenen Vorgängers. Seine Stimme legt sich aus dem Off über die Bilder, und die Geschichte seines Lebens und Sterbens mischt sich so beiläufig wie mehrdeutig in die Haupthandlung. Hinzu kommt die Schilderung des Lebens in der international besetzten, schwimmenden Parallelwelt, von der Arbeit im Maschinenraum, den ölverschmierten Overalls im Kontrast zum makellosen Weiß der Offiziersuniformen bis hin zu den täglichen Routinen und Ritualen. Borleteau zeichnet das Milieu mit Akkuratesse und erzählt damit nebenbei Erhellendes über die Strukturen einer Männergesellschaft. Mit Diplomatie und Durchsetzungsvermögen beweist Alice als einzige Frau an Bord einiges Integrationsgeschick, doch auch Konflikte spart der Film nicht aus.
Zusammengehalten werden diese Ebenen von der Präsenz Ariane Labeds (»Attenberg«) als Alice. Ihr fein austariertes Spiel macht die äußere wie innere Odyssee ihrer Figur nachvollziehbar: zwischen unverstellter Sinnlichkeit und Vorsicht, zwischen Freiheitsdrang und der Sehnsucht nach einem »Heimathafen«. Dass »Alice und das Meer« dabei vieles in melancholischer Schwebe hält, zugleich aber mit solcher Genauigkeit erzählt, macht den Zauber dieses eigensinnigen Seefahrerfilms aus.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns